Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Arbeitshütte vorübergehend in eine Bühne. Die Gäste hatten sich prächtig zurechtgemacht. Die Haut war mit wohlriechendem Ononto bemalt, auch Ruku genannt. Die Männer hatten ihre Haare mit wertvollen Pflanzenessenzen auf Hochglanz geölt und mit Federn geschmückt; jeder trug Beinfransen oder Schmuckrasseln an den Waden, manche Männer sogar Oberarmfederschmuck, der an Flügel erinnerte. Die Frauen waren über und über mit Perlenschnüren behängt.
Auch ich hatte meinen Festtagsschmuck angelegt. Rote und blaue Perlenstränge, über Bauch und Rücken gekreuzt, Armbänder, Beinfransen und Oberarmbänder. Schmuck, der zusammen gut drei bis vier Kilo auf die Waage brachte. Eine Last, die mich heute in der Tropenhitze ganz schön ins Schwitzen bringen würde, mir als Kind aber nichts ausmachte. Im Gegenteil. Ohne die Perlen wäre ich mir bei so einem feierlichen Anlass nackt vorgekommen. Zum Glück hatte mir Sylvia beim Anlegen der Beinfransen geholfen. Sie verdrehten und verhedderten sich immerzu, ein richtiger Fransensalat. Das Anziehen von Kniestrümpfen war ein Kinderspiel dagegen.
Doch wo war eigentlich Sylvia?
Koi hatte auch keinen Schimmer.
Neben dem Hauptdach der Maniokhütte hatten die Männer einen Baldachin aus Zeltplanen errichtet, die mein Vater als Sonnenschutz für das große Ereignis spendiert hatte. Das Wachs der kunstvoll verzierten Masken sollte in der Tropenhitze keinen Schaden nehmen. Während Koi und ich angeregt schwatzten, stampfte Araiba in der Art eines Zeremonienmeisters drei Mal mit einem Holzstab auf die Erde. Die Vorstellung konnte beginnen.
Kaum war Araiba verschwunden, raschelte es hinter dem Vorhang aus Palmblättern, und der erste furchterregende Tamoko-Kopf tauchte auf. Der Blick aus seinen Augen jagte mir einen Schauer über den Rücken. Das war ja viel schlimmer als das Ungeheuer in Peputos Geschichte! Im nächsten Augenblick sauste die geflochtene Lianenpeitsche des Tamoko mit einem lauten Knall auf den Boden, direkt vor unsere Füße. Ich hielt die Luft an. Patsch! Ein zweites Mal klatschte die Peitsche auf, diesmal knapp neben einem Kochkessel. Der zweite Tamoko, der wie aus dem Nichts plötzlich vor uns stand, war riesengroß und schwarz, sein rot-weißes Gesicht glich einer fürchterlichen Teufelsfratze. Er schlurfte mit schweren Schritten umher und kam uns bedrohlich nahe. Koi und ich fassten uns an den Händen, um nicht loszubrüllen. Die kleine Tanshi klammerte sich an ihre Mutter Malina. Zähne zusammenbeißen, das war schließlich nur ein Tanzfest.
Sylvia als mutige Wasserträgerin
Ein kurzer Blick auf Antonia beruhigte mich etwas. Sie stand gelassen vor der Hütte und folgte dem Spektakel mit verschränkten Armen und einem zufriedenen Nicken. Wenn sie so entspannt war, dann musste die Lage doch einigermaßen sicher sein. Auch bei den anderen Zuschauern schien die Neugier größer als die Furcht. Das Ungeheuer in seinem Fransenmantel schüttelte sich und stieß dabei Geräusche aus, die einem durch Mark und Bein fuhren. Mit böse funkelnden Augen hob es seine Peitsche zu einem neuen Schwung. Aus der Nähe betrachtet, sah sie wirklich so aus, als könnte man damit spielend leicht einen Pfahlbau einreißen. Da! Jetzt hatte es aus Versehen den jungen Papayabaum erwischt, den Antonia erst kürzlich gepflanzt hatte. Ein Hieb mit der Peitsche, und das Bäumchen knickte um wie ein Grashalm. Antonia bedachte das Ungeheuer mit einem strafenden Blick. In diesem Moment traten bereits ein dritter, ein vierter und ein fünfter Tamoko aus der Hütte, einer prächtiger und angsteinflößender als der andere. Sie reihten sich nebeneinander auf und begannen rhythmisch auf den Boden zu stampfen. Das dumpfe Geräusch war die einzige »B egleitmelodie« dieses Spektakels. Im Gegensatz zu anderen Festen gab es weder Musik noch Gesang.
Inaina im Lianenunterkleid
Die Tamokos stampften immer heftiger auf den Boden, ein Zeichen, dass gleich noch etwas passieren würde. Gespannt starrten wir zum Blättervorhang vor der Hütte. Und tatsächlich: Ein gewaltiger Kopf auf einem baumhohen Körper schob sich durch die Palmwedel. In der Hand hielt das Untier eine Lianenpeitsche, die beinahe doppelt so lang war wie die der anderen Tamokos. Ich zuckte zusammen. Das musste der Tamoko-Tamuru sein, das größte und rachsüchtigste aller Urwaldungeheuer.
Koi hatte ihre Finger so fest in meinen Arm gebohrt, dass die kleinen Sicheln ihrer Fingernägel tiefe Kerben auf meiner Haut
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