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Das Mädchen.

Das Mädchen.

Titel: Das Mädchen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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zusammengekauert auf einem umgestürzten Baum hockte, bis der Donner nach Osten abzuziehen begann, wobei er sie an einen besiegten, aber noch immer trotzigen Rowdy erinnerte. Regen tropfte auf sie herab. Mücken sirrten; eine verfing sich zwischen ihrer Wange und der Innenseite ihrer Kapuze. Sie drückte ihren Daumen von außen gegen die Kapuze, und das Sirren verstummte schlagartig.
    »So«, sagte sie deprimiert. »Du ärgerst mich nicht mehr, du bist Mus.« Als sie aufstehen wollte, knurrte ihr Magen. Zuvor hatte sie keinen Hunger gehabt, aber jetzt hatte sie welchen. Der Gedanke, daß sie jetzt lange genug herumirrte, um hungrig zu werden, war auf spezielle Weise schlimm. Sie fragte sich, wie viele schlimme Dinge sie noch erwarten mochten, und war froh, daß sie es nicht wußte, daß sie nicht in die Zukunft sehen konnte. Vielleicht keine, sagte sie sich. He, Kopf hoch, Mädchen - vielleicht liegt alles Schlimme schon hinter dir.
    Trisha zog ihren Poncho aus. Bevor sie den Rucksack öffnete, sah sie wehmütig an sich herab. Sie war von Kopf bis Fuß durchnäßt und mit Kiefernnadeln bedeckt, weil sie ohnmächtig am Boden gelegen hatte - ihr allererster Ohnmachtsanfall. Das würde sie Pepsi erzählen müssen, immer vorausgesetzt, daß sie Pepsi jemals wiedersah. »Fang bloß nicht damit an«, sagte sie sich und öffnete die Verschlüsse der Rucksackklappe. Sie nahm das Zeug heraus, das sie zu essen und trinken mitgebracht hatte, und legte die Sachen ordentlich aufgereiht vor sich hin. Beim Anblick der Papiertüte mit ihrem Lunch knurrte ihr Magen noch wütender als zuvor. Wie spät war es? Irgendeine mit ihrem Stoffwechsel gekoppelte innere Uhr sagte ihr, es müsse gegen drei Uhr nachmittags sein: acht Stunden, seit sie am Frühstückstisch gesessen und Cornflakes in sich hineingelöffelt hatte, fünf Stunden, seit sie diese endlose idiotische Abkürzung genommen hatte. Drei Uhr. Vielleicht sogar vier. Ihre Lunchtüte enthielt ein hartgekochtes Ei, noch in der Schale, ein Thunfischsandwich und einige Stangen Sellerie. Außerdem hatte sie die Tüte Kartoffelchips (klein), die Flasche Wasser (ziemlich groß), die Flasche Surge (die große mit zwanzig Unzen, sie liebte Surge) und die Twinkies. Beim Anblick der Flasche Limetten-Zitronen-Limonade fühlte Trisha sich plötzlich mehr durstig als hungrig ... und verrückt nach Zucker. Sie drehte die Verschlußkappe auf, setzte die Flasche an ihren Mund und hielt dann inne. Es wäre nicht clever, die Hälfte davon in sich hineingluckern zu lassen, dachte sie, selbst wenn sie noch so durstig war. Vielleicht war sie noch einige Zeit hier draußen unterwegs. Ein Teil ihres Verstands stöhnte auf und versuchte, von dieser Idee abzurücken, sie einfach für lächerlich zu erklären, aber Trisha konnte es sich nicht leisten, das zuzulassen. Wenn sie aus dem Wald heraus war, konnte sie wieder wie ein Kind denken, aber bis dahin mußte sie möglichst wie eine Erwachsene denken.
    Du hast gesehen, was dort draußen liegt, dachte sie, ein weites Tal mit nichts als Bäumen. Keine Straßen, kein Rauch. Du mußt dich klug verhalten. Du mußt mit deinen Vorräten sparsam umgehen. Das würde Mom dir auch sagen - und Dad ebenfalls.
    Sie genehmigte sich drei große Schlucke Limonade, setzte die Flasche ab, rülpste und nahm zwei weitere hastige Schlucke. Dann schraubte sie die Flasche fest zu und dachte über ihre restlichen Vorräte nach.
    Sie entschied sich für das Ei. Sie schälte es und achtete sorgfältig darauf, die Schalenstücke wieder in den kleinen Plastikbeutel zu werfen, in dem das Ei gewesen war (weder jetzt noch später kam sie auf die Idee, liegengelassener Abfall - irgendein Zeichen, daß sie dort gewesen war -könnte ihr vielleicht das Leben retten), und streute eine Prise Salz darauf. Dabei mußte sie wieder kurz schluchzen, weil sie sich gestern abend in Sanford in der Küche stehen sah, wie sie Salz auf ein Stück Wachspapier kippte und die Enden dann so zudrehte, wie ihre Mutter es ihr gezeigt hatte. Sie konnte die Schatten ihres Kopfs und ihrer Hände sehen, die von der Deckenleuchte auf die Resopalplatte geworfen wurden; sie konnte den Ton der Fernsehnachrichten aus dem Wohnzimmer hören; sie konnte ein Knarren hören, als ihr Bruder oben durch sein Zimmer ging. Diese Erinnerung besaß eine Klarheit, die sie fast in den Rang einer Vision erhob. Sie fühlte sich wie eine Ertrinkende, die sich daran erinnert, wie es war, noch im Boot zu sein: so ruhig und gelassen, so

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