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Das Mädchen.

Das Mädchen.

Titel: Das Mädchen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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würden sie reichlich Heidelbeeren tragen. Vorläufig waren die Beeren jedoch erst -winzige Knospen, grün und ungenießbar. Immerhin hatte es Scheinbeeren gegeben; sie hatten jetzt Saison, und es war vielleicht eine gute Idee, das im Kopf zu behalten. Für alle Fälle.
    Die Fläche zwischen den Heidelbeersträuchern war mit losem Schotter bedeckt. Das Geräusch, das ihre Turnschuhe darauf machten, erinnerte Trisha an zerbrochenes Geschirr. Sie ging immer langsamer über diesen Schotter, und als sie ungefähr noch drei Meter von der Kante der Steilwand entfernt war, ließ sie sich auf alle viere nieder und kroch weiter. Mir kann nichts passieren, mir kann überhaupt nichts passieren, weil ich weiß, wo der Rand ist, gar kein Grund zur Sorge, aber ihr Herz hämmerte trotzdem in ihrer Brust. Und als sie endlich die Kante erreichte, stieß sie ein verwirrtes kleines Lachen aus, weil die Steilwand praktisch nicht mehr da war.
    Der Blick übers Tal war noch immer weit und umfassend, aber das würde er nicht mehr lange sein, weil das Gelände hier kontinuierlich abfiel - Trisha hatte so eifrig gehorcht und so angestrengt nachgedacht (vor allem darüber, daß sie die Nerven behalten mußte, nicht wieder durchdrehen durfte), daß sie es nicht einmal gemerkt hatte. Sie arbeitete sich weiter vor, ließ die letzten kleinen Sträucher hinter sich und konnte dann über den Rand sehen.
    Die Wand war hier nur etwa sechs bis sieben Meter hoch und fiel nicht mehr senkrecht ab - die Felswand hatte sich in einen mit Schotter bedeckten Steilhang verwandelt. Unten waren verkümmerte Bäume, weitere Heidelbeersträucher ohne Beeren und Dornengestrüpp zu sehen. Und überall dazwischen ragten aus der Eiszeit zurückgebliebene Schotterkegel auf. Der Wolkenbruch war versiegt, der Donner war bis auf ein gelegentliches mißgelauntes Grollen in der Ferne verstummt, aber es nieselte weiter, und die nassen Schotterkegel sahen unangenehm glitschig aus -wie aufgehäufter Abraum aus einem Bergwerk. Trisha kroch ein Stück rückwärts, stand auf und arbeitete sich dann durch die Beerensträucher weiter auf das Rauschen des strömenden Wassers zu. Sie wurde langsam müde, und ihre Beine schmerzten, aber insgesamt glaubte sie, in guter Verfassung zu sein. Natürlich hatte sie Angst, aber nicht mehr so schlimm wie zuvor. Man würde sie finden. Wenn Leute sich im Wald verirrten, wurden sie immer gefunden. Man schickte Flugzeuge und Hubschrauber und Männer mit Spürhunden los, und sie alle suchten, bis der oder die Vermißte aufgespürt war.
    Oder vielleicht kann ich mich sozusagen selbst retten. Ich finde irgendwo im Wald ein Blockhaus, schlage ein Fenster ein, falls die Tür abgeschlossen und niemand zu Hause ist, benutze das Telefon...
    Trisha konnte sich im Blockhaus irgendeines Jägers sehen, das seit dem letzten Herbst nicht mehr benutzt worden war; sie konnte mit ausgebleichten wollenen Überwürfen bedeckte schwere Blockhausmöbel und ein Bärenfell auf den Bodendielen sehen. Sie konnte Staub und alte Holzasche riechen; dieser Wachtraum war so lebhaft, daß sie sogar einen Hauch von uraltem Kaffeearoma roch. Das Blockhaus war unbewohnt, aber das Telefon funktionierte. Es war einer dieser altmodischen Apparate, dessen Hörer so schwer war, daß sie ihn in beiden Händen halten mußte, aber er funktionierte, und sie konnte sich sagen hören: »Hallo, Mom? Hier ist Trisha. Ich weiß nicht genau, wo ich bin, aber mir geht's g...«
    Das imaginäre Blockhaus und der imaginäre Anruf fesselten sie so sehr, daß sie beinahe in den kleinen Bach gefallen wäre, der hier aus dem Wald trat und in Kaskaden über den Schotterhang zu Tal strömte.
    Trisha hielt sich an den Zweigen einer Esche fest, blickte aufs Wasser hinab und lächelte dabei tatsächlich ein wenig. Dies war ein beschissener Tag gewesen, kein Zweifel, tres beschissen, aber jetzt schien das Glück ihr endlich wieder zuzulächeln, und das war ein lautes Hurra wert. Sie trat an den Rand des Abbruchs. Der Bach ergoß sich schäumend in die Tiefe und traf manchmal auf einen größeren Felsblock, so daß Wasserschleier entstanden, die an einem sonnigen Nachmittag in allen Regenbogenfarben geschillert hätten. Der Hang auf beiden Bachufern sah rutschig und unzuverlässig aus - lauter nasses Geröll. Andererseits war er auch mit einzelnen Büschen bewachsen. Falls sie zu rutschen begann, würde sie nach dem nächsten greifen, wie sie sich vorhin am Bachufer an den Zweigen der Esche festgehalten

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