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Das Mädchen.

Das Mädchen.

Titel: Das Mädchen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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Innentasche und zog ein Wunder heraus: den intakten Walkman. Das Kopfhörerkabel, das sie säuberlich um das kleine Gerät gewickelt hatte, hatte sich gelöst und war etwas durcheinandergeraten, aber das war alles. Sie hielt den Walkman in der Hand und starrte ungläubig den neben ihr im Gras liegenden Gameboy an. Wie konnte der eine heil und der andere so stark beschädigt sein? Wie war das möglich?
    Es ist nicht möglich, teilte die kalte, verhaßte Stimme in ihrem Kopf ihr mit. Er sieht unbeschädigt aus, aber innendrin ist er kaputt.
    Trisha entwirrte das Kabel, steckte die Ohrhörer ein und legte ihren Finger auf den Einschaltknopf. Sie hatte die Wespenstiche, die quälenden Insekten, ihre Schnitt- und Schürfwunden vergessen. Jetzt schloß sie ihre geschwollenen, schweren Lider, um etwas Dunkelheit zu erzeugen. »Bitte, lieber Gott«, sagte sie ins Dunkel hinein, »laß meinen Walkman heil sein.« Dann drückte sie auf den Einschaltknopf.
    »Diese Meldung ist eben reingekommen«, sagte die Ansagerin so deutlich, als sende sie mitten aus Trishas Kopf. »Eine Frau aus Sanford, die mit ihren beiden Kindern auf dem in Castle County liegenden Teilstück des Appalachian Trail gewandert ist, hat ihre Tochter, die neunjährige Patricia McFarland, als vermißt gemeldet. Die Kleine scheint sich in den Wäldern westlich der Ansiedlung TR-90 und der Stadt Motton verirrt zu haben.«
    Trisha riß ihre Augen auf, und sie hörte noch zehn Minuten lang gespannt zu, als WCAS - wie jemand mit unheilbar schlechten Angewohnheiten - schon längst wieder zu Countrymusik und NASCAR-Reportagen zurückgekehrt war. Sie hatte sich im Wald verirrt. Das war nun amtlich. Bald würden sie in Aktion treten, wer immer sie waren -die Leute, vermutete sie, die dafür sorgten, daß die Hubschrauber und die Spürhunde ständig einsatzbereit waren. Ihre Mutter würde sich zu Tode ängstigen ... und Trisha empfand trotzdem ein seltsames Kribbeln der Befriedigung, wenn sie daran dachte.
    Man hat nicht auf mich aufgepaßt, dachte sie mit einem Anflug von Selbstgerechtigkeit. Ich bin nur ein kleines Mädchen, und man hat nicht richtig auf mich aufgepaßt. Und wenn sie mich ausschimpß, sage ich einfach: »Ihr habt nicht zu streiten aufgehört, und ich hab's schließlich nicht mehr aushalten können.« Das würde Pepsi gefallen; es klang so nach V.C. Andrews.
    Schließlich schaltete sie den Walkman wieder aus, wickelte das Kopfhörerkabel auf, drückte dem schwarzen Plastikgehäuse einen Kuß auf und verstaute ihn liebevoll in seiner Tasche. Sie betrachtete die zusammengedrückte Lunchtüte, konnte sich aber doch nicht überwinden, einen Blick hineinzuwerfen, um festzustellen, in welchem Zustand das Thunfischsandwich und das restliche Twinkie sich befanden. Zu deprimierend. Nur gut, daß sie ihr Ei gegessen hatte, bevor es sich in Eiersalat hatte verwandeln können. Dieser Gedanke hätte eigentlich ein Kichern verdient, aber sie konnte gerade keines herausbringen; der alte Kicherbrunnen, den ihre Mutter für unerschöpflich hielt, schien vorübergehend ausgetrocknet.
    Trisha saß niedergeschlagen am Ufer des kleinen Bachs, der hier weniger als drei Fuß breit war, und aß Kartoffelchips. Zuerst die Chips aus der aufgeplatzten Packung, dann die Krümel von der Lunchtüte, und zuletzt die winzigen Brösel, die in ihrem Rucksack verstreut waren. Ein großes Insekt brummte an ihrer Nase vorbei, und sie schrak davor zurück, schrie auf und hob eine Hand, um ihr Gesicht zu schützen. Aber es war nur tine Pferdebremse. Schließlich verstaute Trisha mit den müden Bewegungen einer Sechzigjährigen nach einem schweren Arbeitstag (sie fühlte sich wie eine Sechzigjährige nach einem schweren Arbeitstag) wieder alles in ihrem Rucksack - selbst der zertrümmerte Gameboy wurde wieder eingepackt - und stand auf. Bevor sie den Rucksack schloß, streifte sie ihren Poncho ab und betrachtete ihn. Das dünne Plastikding hatte ihr auf ihrer Rutschpartie den Steilhang hinunter keinerlei Schutz geboten; jetzt war es zerrissen und hing auf eine Art und Weise in Fetzen, die sie unter anderen Umständen für komisch gehalten hätte - er sah fast wie ein Hularock aus blauem Plastik aus -, aber vermutlich war es doch besser, den Poncho zu behalten. Zumindest konnte er sie vielleicht vor den Insekten schützen, die nun wieder in einer dichten Wolke um ihren armen Kopf schwirrten. Der Mückenschwarm war größer als je zuvor, zweifellos von dem Blut an ihren Armen angelockt.

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