Das Mädchen.
schmutzige Poncho kam mit hinein. »Macht nichts, weil bestimmt schon massenhaft Suchtrupps unterwegs sind. Einer wird mich finden. Mittags sitze ich schon beim Essen in einem Diner. Hamburger, Pommes frites, Kakao, Apfelkuchen.« Bei dieser Vorstellung knurrte ihr der Magen.
Sobald Trisha ihr Zeug eingepackt hatte, rieb sie auch ihre Hände wieder mit Schlamm ein. Unterdessen lag die Lichtung in hellem Sonnenschein - der Tag versprach klar und heiß zu werden -, und sie konnte sich jetzt etwas leichter bewegen. Sie streckte sich, trabte ein bißchen auf der Stelle, um den alten Kreislauf in Schwung zu bringen, und rollte ihren Kopf von einer Seite zur anderen, bis die schlimmste Steifheit im Nacken verschwunden war. Sie machte noch einen Augenblick länger Pause und horchte auf Stimmen, auf Hunde, vielleicht auch auf das unregelmäßige whup-whup-whup der Rotoren eines Hubschraubers. Aber sie hörte nur den Specht, der schon nach seinem täglich Brot hämmerte.
Macht nichts, du hast reichlich Zeit. Es ist Juni, weißt du. Dies sind die längsten Tage des Jahres. Geh dem Bach nach. Selbst wenn die Suchtrupps dich nicht gleich finden, bringt der Bach dich zu Menschen.
Aber als der Morgen zum Vormittag wurde, brachte der Bach sie nur zu Wäldern und noch mehr Wäldern. Die Temperatur stieg. Kleine Schweißbäche begannen dünne Linien durch ihre Schlammpackung zu ziehen. Größere Bäche bildeten dunkle Flecken unter den Achseln ihres 36 GORDON-Trikots; ein weiterer feuchter Fleck, in Baumform, entstand zwischen ihren Schulterblättern. Ihre Haare, die jetzt so schlammig waren, daß sie nicht mehr blond, sondern schmutzigbrünett aussahen, hingen ihr ins Gesicht. Trishas anfängliche Hoffnungen verflüchtigten sich, und die Energie, mit der sie um sieben Uhr von der Lichtung aufgebrochen war, war um zehn Uhr verbraucht. Gegen elf Uhr geschah etwas, was ihr den Mut noch weiter raubte. Sie hatte den Kamm eines Hügelrückens erreicht - dieser war wenigstens ziemlich sanft und mit einem Teppich aus Blättern und Nadeln bedeckt - und wollte dort etwas rasten, als jene unwillkommene Sinneswahrnehmung, die überhaupt nichts mit ihrem Bewußtsein zu tun hatte, sie erneut alarmierte. Sie wurde beobachtet. Es hatte keinen Zweck, sich einreden zu wollen, das sei nicht wahr, denn es stimmte.
Trisha drehte sich langsam im Kreis. Sie sah nichts, aber der Wald schien wieder verstummt zu sein: keine Backenhörnchen mehr, die raschelnd durch Laub und Unterholz tobten, keine roten Eichhörnchen mehr jenseits des Bachs, keine warnend schimpfenden Eichelhäher mehr. Der Specht hämmerte weiter, in der Ferne krächzten Krähen, aber ansonsten war sie mit den sirrenden Mücken allein. »Wer ist da?« rief sie.
Sie bekam natürlich keine Antwort und machte sich neben dem Bach an den Abstieg, bei dem sie sich an Büschen festhalten mußte, weil der Untergrund rutschig wurde. Das hab' ich mir nur eingebildet, dachte sie ... und wußte recht gut, daß das nicht stimmte.
Der Bach wurde schmaler, und das bildete sie sich garantiert nicht ein. Während sie ihm den langen Kiefernhang hinunter und dann durch ein schwieriges Laubwäldchen folgte -zuviel Unterholz, und zuviel davon dornig -, schrumpfte er stetig weiter, bis er schließlich nur noch ein höchstens eineinhalb Fuß breites Rinnsal war.
Der Bach verschwand in einem niedrigen Gehölz. Statt es zu umgehen, kämpfte Trisha sich durch den dichten Bewuchs am Ufer, weil sie fürchtete, den Bach sonst aus den Augen zu verlieren. Ein Teil ihres Ichs wußte, daß das keine Rolle gespielt hätte, weil er fast sicher nicht dorthin führte, wo sie hinwollte, denn vermutlich führte er gar nirgends hin, aber all diese Dinge schienen keinen Unterschied zu machen. Die Wahrheit war, daß sich bei ihr eine emotionale Bindung an den Bach entwickelt hatte - sie hatte eine Beziehung zu ihm aufgebaut, hätte ihre Mom gesagt -, so daß sie es nicht ertragen konnte, ihn zu verlassen. Ohne ihn wäre sie nur ein kleines Mädchen gewesen, das planlos durch den tiefen Wald irrte. Allein der Gedanke daran schnürte ihr die Kehle zu und ließ ihr Herz jagen. Sie verließ das Laubwäldchen, und der Bach erschien wieder. Trisha folgte ihm mit gesenktem Kopf und finsterer Miene so konzentriert wie Sherlock Holmes der Fährte des Hundes von Baskerville gefolgt war. Sie merkte weder, daß das Unterholz sich veränderte, weil die Büsche Farnen wichen, noch daß viele der Bäume, zwischen denen der kleine Bach sich
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