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Das Mädchen.

Das Mädchen.

Titel: Das Mädchen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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hervortrat. Unterhalb dieser Felsen rauschte eindrucksvoll schnell ein Wildbach dahin, im Vergleich dazu war ihr erster Bach kaum mehr als ein Tröpfeln aus einem nicht ganz zugedrehten Gartenschlauch gewesen.
    Trisha lief völlig unbefangen am Rand des Abhangs entlang, obwohl ein Fehltritt sie mindestens acht Meter tief hätte abstürzen lassen, was wahrscheinlich tödlich gewesen wäre. Nachdem sie ungefähr fünf Minuten lang bachaufwärts gegangen war, erreichte sie einen Felsspalt, der vom Waldrand in die Schlucht hinunterführte, durch die der Wildbach schoß. Der Boden dieser natürlichen Klamm war mit einem jahrzehntealten Teppich aus Laub und Nadeln bedeckt.
    Sie setzte sich auf den Waldboden und rutschte vorwärts, bis ihre Füße über den Rand des Spalts baumelten, als sitze sie oben auf einer Spielplatzrutsche. Dann ließ sie sich in die Tiefe gleiten, wobei sie sich mit den Händen abstützte und mit den Füßen bremste. Auf etwa halber Strecke geriet sie ins Rutschen. Statt zu versuchen, ganz abzubremsen - dabei hätte sie sich wahrscheinlich wieder überschlagen -, lehnte sie sich nach hinten, faltete ihre Hände im Nacken, schloß die Augen und hoffte das Beste.
    Die unfreiwillige Rutschpartie zum Bach hinunter war kurz und holperig. Trisha prallte mit ihrer rechten Hüfte gegen einen vorstehenden Felszacken, und ein anderer traf ihre gefalteten Hände so heftig, daß ihre Finger für einige Zeit gefühllos waren. Hätten ihre Hände nicht schützend um ihren Hinterkopf gelegen, überlegte sie sich später, hätte dieser zweite Felszacken ihr die Kopfhaut aufreißen können. Oder schlimmer. »Brich dir nicht dein dummes Genick«, war eine weitere Redensart von Erwachsenen, die sie kannte -in diesem Fall ein Lieblingsausdruck von Gramma McFarland.
    Unten prallte sie so heftig auf, daß ihre Knochen knirschten, und ihre Turnschuhe waren plötzlich voll mit eiskaltem Wasser. Sie zog sie heraus, drehte sich um, warf sich flach auf den Bauch und trank gierig, bis ihr ein stechender Schmerz in die Stirn fuhr, wie es manchmal passierte, wenn sie erhitzt und hungrig war und ein Eis zu rasch verschlang. Trisha hob ihr tropfnasses, mit Schlamm bedecktes Gesicht aus dem schäumenden kalten Wildbach und sah keuchend und selig grinsend zu dem dunkler werdenden Himmel auf. Hatte sie jemals so gutes Wasser getrunken? Nein. Hatte sie jemals irgend etwas Besseres gekostet? Absolut nicht. Dies war eine Klasse für sich. Sie tauchte ihr Gesicht wieder ein und trank nochmals. Schließlich richtete sie sich kniend auf, stieß einen gewaltigen wäßrigen Rülpser aus und lachte dann zittrig. Ihr Bauch war angeschwollen, fühlte sich straff wie eine Trommel an. Zumindest vorläufig war sie nicht einmal mehr hungrig.
    Die Rinne war zu steil und zu glitschig, als daß Trisha sie wieder hätte hinaufklettern können; sie wäre vielleicht halb oder sogar fast ganz hinaufgekommen, nur um wieder bis zur Sohle hinunterzurutschen. Der Hang auf dem anderen Bachufer schien jedoch leicht zu bewältigen - er war steil und mit Bäumen bestanden, aber nicht zu dicht mit Gebüsch bewachsen, und dazwischen gab es reichlich Felsblöcke, die sich als Trittsteine benutzen ließen. Sie konnte noch etwas weiterwandern, bevor es dafür zu dunkel wurde. Warum auch nicht? Seit sie sich den Bauch mit Wasser vollgeschlagen hatte, fühlte sie sich wieder stark, wundervoll stark. Und zuversichtlich. Der Sumpf lag hinter ihr, und sie hatte wieder einen Bach gefunden. Einen guten Bach.
    Ja, aber was ist mit dem speziellen Ding? fragte die kalte Stimme. Trisha fand diese innere Stimme auf einmal wieder beängstigend. Die Dinge, die sie sagte, waren schlimm; entdecken zu müssen, daß sich in ihr ein so negativ eingestelltes Mädchen verbarg, war noch schlimmer. Hast du das spezielle Ding vergessen?
    »Falls es je ein spezielles Ding gegeben hat«, sagte Trisha, »ist es jetzt fort. Vielleicht ist's bei dem Hirsch geblieben.« Das war wahr oder schien zumindest wahr zu sein. Das Gefühl, beobachtet, vielleicht belauert zu werden, war verschwunden. Das wußte die kalte Stimme, und sie äußerte sich nicht dazu. Trisha merkte, daß sie sich ihre Besitzerin gut vorstellen konnte: eine taffe, lästernde kleine Tussi, die Trisha nur ganz zufällig entfernt ähnlich sah (vielleicht wie eine Cousine zweiten Grades). Nun stakste sie mit hochgezogenen Schultern und geballten Fäusten wie der personifizierte Groll davon.
    »Ja, hau ab und komm nicht wieder«,

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