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Das Mädchen.

Das Mädchen.

Titel: Das Mädchen. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King
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etwas zurückgegangen war, tat die Berührung noch immer weh. Also kein Traum. Aber als der zweite Weißgewandete seine Kapuze zurückschlug und sie einen Mann sah, der wie ihr Vater aussah - nicht genau, aber Larry McFarland so ähnlich, wie der erste Weißgewandete Mr. Bork ähnlich gesehen hatte -, dachte sie, es müsse wohl doch einer sein. Falls das stimmte, glich er keinem Traum, den sie jemals gehabt hatte.
    »Nicht verraten«, sagte Trisha, »du kommst vom unterschwellig Wahrnehmbaren, stimmt's?«
    »Tatsächlich bin ich das unterschwellig Wahrnehmbare«, sagte der Mann, der wie ihr Vater aussah, entschuldigend. »Um erscheinen zu können, mußte ich die Gestalt eines Menschen annehmen, den du kennst, denn in Wirklichkeit bin ich ziemlich schwach. Ich kann nichts für dich tun, Trisha. Tut mir leid.«
    »Bist du betrunken?« fragte Trisha, die plötzlich wütend war. »Das bist du, stimmt's? Ich kann's bis hierher riechen. Mann!«
    Die Verkörperung des unterschwellig Wahrnehmbaren bedachte sie mit einem verschämten kleinen Lächeln, gab keine Antwort, trat zurück und schlug ihre Kapuze wieder hoch.
    Nun trat die Gestalt in der schwarzen Robe vor. Trisha wurde von jähem Entsetzen erfaßt.
    »Nein«, sagte sie, »du nicht.« Sie versuchte aufzustehen und konnte sich noch immer nicht bewegen. »Du nicht, hau ab, laß mich in Ruhe.«
    Aber die schwarz umhüllten Arme hoben sich, und die Ärmel gaben gelblich weiße Krallen frei ... die Krallen, die Spuren an Bäumen hinterlassen hatten, die Krallen, die dem Hirsch erst den Kopf abgerissen und dann seinen Körper zerfleischt hatten.
    »Nein«, flüsterte Trisha. »Nein, bitte nicht. Ich will dich nicht sehen.«
    Der Schwarzgewandete achtete nicht auf sie. Erschlug seine Kapuze zurück. Darunter kam kein Gesicht zum Vorschein, nur ein ganz aus Wespen bestehender mißgebildeter Schädel. Sie krochen übereinander, ein wimmelndes Gesumme. Trisha sah in diesem Gewimmel auf beunruhigende Weise menschliche Züge erscheinen und wieder vergehen: ein leeres Auge, ein lächelnder Mund. Der Kopf summte, wie die Fliegen auf dem verstümmelten Hirschnacken gesummt hatten; er summte, als habe das Wesen in dem schwarzen Gewand einen Elektromotor als Gehirn. »Ich komme von dem Ding im Wald«, sagte der Schwarzgewandete mit summender, unmenschlicher Stimme. In Trishas Ohren klang sie wie die Stimme des Mannes, der im Radio vor dem Rauchen warnte - der arme Kerl, der seit einer Krebsoperation keine Stimmbänder mehr hatte und durch ein Gerät sprechen mußte, das er sich an den Kehlkopf hielt. »Ich komme vom Gott der Verirrten. Er hat dich beobachtet. Er hat auf dich gewartet. Er ist dein Wunder, und du bist seines.«
    »Hau ab!« Das wollte Trisha schreien, aber in Wirklichkeit brachte sie nur ein heiseres, winselndes Flüstern heraus. »Die Welt ist ein Szenario des schlimmsten anzunehmenden Falles, und alles, was du empfindest, ist wahr, furchte ich«, sagte die summende Wespenstimme. Ihre Krallen scharrten langsam an einer Seite ihres Gesichts herunter, gingen durch ihr Insektenfleisch hindurch und legten die leuchtend weißen Knochen darunter frei. »Die Haut der Welt ist aus stechenden Insekten gewoben - eine Tatsache, die du jetzt aus eigener Erfahrung kennst. Darunter liegen nur Knochen und der Gott, den wir gemeinsam haben. Dies ist eine überzeugende Demonstration, findest du nicht auch?« Trisha sah verängstigt weinend weg - sah wieder nach unten in den Bach. Dabei merkte sie, daß sie sich ein klein wenig bewegen konnte, wenn sie den grausigen Wespenpriester nicht ansah. Sie hob ihre Hände ans Gesicht, wischte ihre Tränen weg und blickte dann wieder zu ihm. »Ich glaube dir nicht! Ich ... « Der Wespenpriester war verschwunden. Alle drei waren fort. Jenseits des Bachs tanzten nur Schmetterlinge in der Luft, jetzt acht oder neun statt der ursprünglichen drei, alle in verschiedenen Farbtönen, nicht nur schwarz und weiß. Und das Licht hatte sich verändert; es nahm allmählich eine golden-orangerote Färbung an. Also waren mindestens zwei Stunden vergangen, wahrscheinlich eher drei. Sie mußte geschlafen haben. »Alles war nur ein Traum«, wie es in alten Märchen hieß ... aber so sehr Trisha sich auch bemühte, sie konnte sich nicht erinnern, eingeschlafen zu sein, konnte sich an keine Unterbrechung ihrer bewußten Wahrnehmung erinnern. Und es hatte sich nicht wie ein Traum angefühlt.
    Dann hatte Trisha eine Idee, die erschreckend und merkwürdig beruhigend

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