Das Maedchengrab
drückte dankbar die Hand der alten Frau.
Sie betraten die Kirche, doch bevor sie in den Bänken Platz nahmen, begrüßten sie den Oberlandbauern. Er nahm nicht nur als Fines Vormund, sondern auch als Mitglied des Gemeinderates an den Feierlichkeiten teil. Wie er dort in der Kirche stand, mit schwarzem Anzug und einer goldenen Uhrkette über der Weste, da wurde Fine noch ängstlicher zumute. Marjann bemerkte wohl, dass Fine kaum in der Lage war, der Predigt des Vikars zu folgen. Die aufbauenden Worte des Gemeindehirten konnten Fine nicht über ihre Aufregung hinweghelfen. Und auch die liebevollen Blicke der Quartiersmutter vermochten nicht, das Mädchen zu beruhigen. Doch was getan werden musste, das musste nun einmal getan werden. So hatten es Fine und Marjann oft genug besprochen.
Nach der Messe gingen die Festteilnehmer die wenigen Schritte hinüber zum Schulgebäude. Dort hielt der Oberlandbauer eine Rede für die Kinder des Dorfes, die an diesem Tag die sechste Klasse beendeten. Auch Fines Freundin Bärbel gehörte dazu, neben einem weiteren Mädchen und zwei Knaben. Der Oberlandbauer lobte die fünf Absolventen und sprach ihnen die besten Wünsche für ihr Arbeitsleben aus. Denn keines der Kinder konnte sich, trotz manch guter Begabung, den Besuch des Gymnasiums in Köln oder Bonn leisten.
Zum Ende der Feierstunde kam dann der große Augenblick, vor dem Fine so gebangt hatte. Bevor es soweit war, drückte Marjann ihre Pflegetochter an sich und küsste ihr beide Wangen. »Du schaffst das schon, mein Mädchen. Sei zuversichtlich und vertraue auf deine Eltern. Sie sind im Geiste bei dir und werden dir helfen.«
Mit allem Mut, den sie in ihrer jungen Seele aufbringen konnte, wandte Fine sich an ihren Vormund und bat um eine Unterredung unter vier Augen.
»Was ist denn noch?«, entgegnete er ungehalten. »Ich muss mich um meinen Hof kümmern, und es ist ja alles besprochen.«
»Ich bitte Euch inständig, Herr.« Fine bemerkte ihre zitternde Stimme, doch sie sprach weiter. »Tut mir den Gefallen und lasst mich Euch etwas erklären.«
Der Oberlandbauer schaute sich nach rechts und links um, er und Fine standen allein auf dem Flur. Die anderen Schulabgänger mit ihren Angehörigen waren schon gegangen. Und die übrigen Kinder hatte der Lehrer in den Klassenraum gerufen, um an diesem Vormittag noch zwei Stunden Unterricht abzuhalten.
»So sprich, Kind«, drängte der Bauer. »Hier kann uns niemand hören, und ich habe es eilig. Mein Großknecht wartet auf Anweisungen für ein neues Stallgebäude.«
»Nein, nicht hier«, in aller Aufrichtigkeit sah Fine ihren Vormund an. »Bitte lasst uns ans Grab meiner Eltern gehen. Denn mir ist, als sollten sie Zeugen werden von dem, was ich Euch sagen möchte. Und es wird sicher nicht lange dauern.«
»Nun gut«, entgegnete der Oberlandbauer mit kaum unterdrücktem Unmut. »Weil heute ein besonderer Tag für dich ist.«
Er ging mit Fine den kurzen Weg vom Schulhaus zum Kirchhof. Dort setzten sie sich auf eine Bank, gleich beim Grab ihrer Eltern.
Sie rang nach den richtigen Worten, da setzte ihr Vormund schon an: »Ich erwarte dich morgen auf meinem Hof, Josefine. Du wirst bei mir als Jungmagd beginnen, genau wie wir es vereinbart haben. Die Gemeinde zahlt nun kein Kostgeld mehr für dich, und du musst für dein Auskommen arbeiten.«
»Genau darum geht es«, antwortete Fine stockend, doch während sie den Blick auf das Grab ihrer Eltern heftete, überkam sie eine tiefe Sicherheit. »Herr Vormund«, brachte sie nun klar hervor. »Ich kenne meine Pflichten, und ganz sicher will ich der Gemeinde nicht mehr auf der Tasche liegen.« Sie holte tief Luft und sprach die entscheidenden Worte: »Aber auf Euren Hof werde ich auch nicht kommen.«
Mit Schrecken sah sie, wie sich tiefe Zornesfalten in die Stirn des Oberlandbauern legten. »Was dann?!«, rief er laut aus, fassungslos über das Ansinnen des Mädchens, das nicht einmal sein dreizehntes Jahr vollendet hatte und sich dennoch erdreistete, derartig fordernd aufzutreten.
Doch Fine ließ sich nicht beirren. »Ich will im Haus der Schwarzen Marjann wohnen bleiben«, sagte sie nun mit klarer Stimme, »und ihr bei der täglichen Arbeit helfen. Es gibt im Dorf genug zu tun, um uns beide zu nähren. Wir brauchen nicht viel, und die Tante Marjann ist damit einverstanden, dass ich weiter bei ihr lebe.«
Wie sie schon erwartet hatte, verärgerten ihre Worte den Oberlandbauer sehr. »Immer nur Marjann, Marjann!«, rief er wütend
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