Das Maedchengrab
Mutter hatten ihr einmal gesagt, dass Fine überall da, wo sie frei entscheiden konnte, ihrem Herzen folgen sollte.
Und während sie so saß und in sich fühlte, gedachte sie auch der jungen Lisbeth. Auf der anderen Seite des Kirchhofs hatte dieses junge Mädchen die letzte Ruhe gefunden – nach der grausigen Tat eines Mörders.
Die Kammer
Je näher es auf das Osterfest zuging, umso mehr mühte sich die Sonne, hell und warm zu strahlen. Selbst die Nächte gaben sich schon lau und windstill, dabei zeigte der Kalender erst Mitte April.
Am Karsamstag, spät in der Nacht, brachen Fine und Marjann zur Dorfkirche auf. Wie jedes Jahr gestaltete der Vikar die Ostermesse besonders feierlich. Über viele Stunden zog sich der Gottesdienst hin. Predigten, Gebete und Gesänge, aber auch Zeiten des andächtigen Schweigens wechselten sich ab. Zu der Stunde, wo die Biblische Geschichte von der Auferstehung des Herrn kündet, ging ein Ruf der hoffnungsvollen Erlösung durch die Gemeinde. Bald darauf drang eine reiche Morgensonne in den Altarraum, und die Menschen beendeten ihre Feier in stiller Glückseligkeit. Erfüllt von Freude kehrten das Mädchen und die alte Frau in Marjanns Haus zurück, das für Fine im Laufe der Zeit zu einem herzenswarmen Heim geworden war.
Sie frühstückten Eier, die Fine zuvor in einem Sud von Zwiebelschalen, einem weiteren von Roter Rübe und einem dritten von Spinatblättern bunt gefärbt hatte. Nach dem Mahl deckte sie den Tisch ab und war gerade dabei, die übrig gebliebenen Eier in die Speisekammer zu tragen, da kam Marjann mit geheimnisvoller Miene auf sie zu.
»Nun habe ich eine Überraschung für dich. Es ist mein Geschenk zu den Ostertagen, aber auch zum Ende deiner Schulzeit.«
Fine staunte, denn nichts hatte darauf hingewiesen, dass Marjann eine Besonderheit plante.
»Du musst suchen.« Die alte Frau lachte. »Schließlich ist Ostern, da muss man sich schon ein wenig mühen, um sein Geschenk zu finden.«
»Gut, Tante«, erwiderte Fine belustigt. »Aber dann sagt mir wenigstens ›Heiß!‹ oder ›Kalt!‹, damit ich nicht zu sehr umherirren muss.«
»Das werde ich nicht tun. Im Gegenteil: Ich will es dir recht schwer machen.« Mit einem Kichern, als wäre sie selbst noch ein junges Mädchen, zog Marjann hinter dem Rücken ein Tuch hervor. Noch bevor Fine etwas entgegnen konnte, verband die alte Frau ihr die Augen und drehte sie einige Male um die eigene Achse. Fine wurde schwindlig, und fast wäre sie gefallen, doch Marjann nahm sie bei der Hand und schob sie sanft aus der Hintertür des kleinen Hauses hinaus in den Garten. Natürlich wusste Fine, dass es der Hauptweg zwischen den Gemüsebeeten war, über den Marjann sie leitete. Je weiter sie gingen, umso weniger konnte Fine sich denken, was ihre Quartiersmutter im Schilde führte. Schließlich verließen sie den Hauptweg im Garten und wandten sich nach links.
Lachend blieb Marjann stehen und fasste ihre Pflegetochter am Arm. »Nun taste dich noch ein Stück heran, dann fühlst du schon bald die Überraschung.«
Fine streckte behutsam ihren Arm aus. Was sie fühlte, war nichts als verwittertes Holz, und sie wusste sogleich, wozu diese Balken gehörten.
»Das ist doch der Schuppen!«
»Richtig!«, rief Marjann ausgelassen.
»Und den wollt Ihr mir schenken, Tante? Etwa auch die Hacke und den Spaten darin? Damit ich von nun an den ganzen Tag lang mit den Geräten den Garten beackere? Und Ihr selbst sitzt nur noch in der warmen Küche und krault den Katzen das Fell?«
»So soll es sein, Kind.«
Mit einem Jauchzer zog Marjann die Tür des Geräteschuppens auf und führte Fine hinein. Erst jetzt, als die beiden mitten im Raum standen, durfte Fine das Tuch von den Augen nehmen.
Selbstredend kannte Fine den Schuppen. Sie war oft hier gewesen, um Marjann bei unterschiedlichen Arbeiten zur Hand zu gehen. Er bestand aus zwei Räumen, die mit einer schmalen Tür verbunden waren. In beiden Teilen bewahrte Marjann allerlei Gerätschaft auf, die sie für Hof und Garten brauchte.
Als die alte Frau ihr nun das Tuch abband, erwartete Fine, von Hammer, Säge und Sense umgeben zu sein. Doch weit gefehlt: Staunend sah sie sich um und erkannte in dem winzigen Raum eine behagliche Schlafkammer. Ein Bett, größer als das Kinderbett aus Fines Elternhaus, stand an einer Wandseite, daneben ein Nachtkasten, ein Schrank und vor dem Fenster ein Stuhl. Etwa zwei mal drei Meter maß die Kammer, sie war einfach gehalten mit einem Boden aus
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