Das Maedchengrab
wühlten sie auf. Die Jungmagd legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter.
Nachdem sie einen Schluck getrunken hatte, fragte Fine ängstlich: »Was meinst du, Ulla? Ist der Lohbauer denn nun eigentlich gefährlich? Wenn er tatsächlich eine junge Frau getötet haben sollte, dann könnte er das doch auch wieder tun?«
»Ach, Fine«, Ulla lächelte dem Mädchen zu. »Da mach dir doch bitte keine Sorgen. Ich glaube nicht, dass er es überhaupt getan hat. Der Lohbauer ein Mörder? Das kann ich mir so gar nicht ausmalen. Er ist ja des Öfteren zu Gast hier beim Oberlandbauern, und manchmal bediene ich die beiden mit Speis und Trank. Dabei ist der Lohbauer immer freundlich zu mir und gar nicht aufdringlich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er überhaupt imstande wäre, etwas derart Grausiges zu tun.«
Fine nickte, obwohl ihr gerade eine andere Vorstellung in den Sinn kam, die sie noch mehr ängstigte: »Denkst du, dass es doch Hannes gewesen sein könnte? Ich war damals ja noch ganz klein und kann mich an ihn nicht erinnern. Aber nach allem, was ich über ihn erfahren habe, kann er doch wohl kein Mörder sein.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Ulla entschieden. »Niemand weiß es. Nicht einmal die Polizei. Und darum solltest du dir auch nicht so schlimme Gedanken machen. Die Sache liegt doch schon acht Jahre zurück, und seitdem ist niemals mehr dergleichen passiert. Ich glaube eher, es war jemand, der gar nicht aus dem Dorf stammt. Genau das vermutet die Polizei nämlich auch. Ein Fremder könnte Lisbeth auf dem Markt beobachtet haben. Ihr dann aufzulauern und sie auf dem Weg zu überfallen, das war sicher leicht. Ein Reisender mag es gewesen sein oder jemand, der zum fahrenden Volk gehört. Denk nicht weiter darüber nach, Fine. Sprich mit niemandem darüber und freue dich deines Lebens. Der Ernst und die Arbeit kommen noch früh genug.«
»Das werde ich tun«, versicherte Fine. »Und danke für das Wasser.«
Herzlich verabschiedete sie sich von Ulla und ging ins Dorf zurück. Aber so ganz hielt sie sich an die Vereinbarung doch nicht. Basti, der ja von ihrem Gespräch mit Ulla wusste, wartete in der Nähe von Marjanns Haus auf seine Schwester. Dass sie ihm gegenüber das Versprechen brach, empfand sie nicht als ungerecht gegenüber Ulla. Schließlich wäre Basti ja gern bei der Unterredung dabei gewesen, auch in seinem Sinne hatte Fine mit Ulla geredet. Darum weihte Fine ihren Bruder ein und mahnte ihn, alles vertraulich zu behandeln, so als hätte er es selbst Ulla versprochen.
Basti nahm die Neuigkeiten viel gefasster, als Fine es erwartet hatte. »So etwas habe ich mir schon gedacht«, meinte er. »Denn es muss ja gewichtige Gründe geben, dass alle im Dorf darüber schweigen. Und ich denke, Ulla hat recht in dem, was sie sagt: Die Sache ist lange her, und wenn die Polizei so lange gesucht und den Mörder nicht gefunden hat, dann war es doch am ehesten ein Raubmord durch einen Fremden.«
»So ist es sicherlich«, meinte Fine.
Aber die Gewissheit, die sie in ihre Stimme legte, fand sich nicht in ihrer Seele wieder. Vielmehr war sie erleichtert darüber, dass Basti durch die Sache nicht allzu belastet wirkte. Da wollte sie ihn nicht mit ihren eigenen Zweifeln verstören.
In den folgenden Tagen achteten sie darauf, ob einer der Schulkameraden noch einmal die Rede auf das Grab der jungen Lisbeth bringen würde. Doch so, wie vor dem Friedhofsbesuch keins der Kinder die Tochter vom Köhlmattes gekannt hatte, schien sie auch jetzt wieder nicht weiter interessant zu sein. Fine und Basti behielten ihr Wissen für sich.
Immer, wenn Marjann voll des Lobs über ihren Hannes in Amerika sprach, stimmte Fine zu. Mit keinem Wort erwähnte sie, dass Hannes nur einige Tage vor Lisbeths Tod aus dem Dorf verschwunden war, weswegen die Gendarmerie ihn als Mörder verdächtigt hatte. Trotzdem dachte sie oft voller Schrecken an die Sache. Die Vorstellung, mit der Mutter eines Mörders unter einem Dach zu leben, erschien Fine unfassbar. Darum redete sie sich lieber ein, dass der Verdacht unbegründet war. Nach wie vor erzählte Marjann voller Stolz über ihn, und Fine wollte die Liebe der alten Frau zu ihrem Sohn keinesfalls antasten.
So vergingen die Monate; im nächsten Frühjahr sollte Fine ihre Schulzeit beenden, denn ihr dreizehnter Geburtstag stand bevor.
Die Entscheidung
Der Winter war mild und tief grau, nur selten drang eine fahle Sonne ins Tal. In den langen Nächten, wenn Fine spinnend bei Marjann saß und die
Weitere Kostenlose Bücher