Das Maedchengrab
beiden nichts hörten als manchmal das verschlafene Glucksen der Hühner und das Meckern der Ziege, kam es ihr so vor, als würde etwas in ihr reifen, das sie selbst noch nicht verstand. Marjann erzählte ihr immer wieder Geschichten aus dem Leben mit ihren vier Kindern, von denen nur Hannes überlebte. Ab und an kam es Fine dann so vor, als hätte sie schon immer hier bei Marjann gelebt. Doch sobald Fine sich dieser Gefühle bewusst wurde, schalt sie sich selbst, und eine Schuld überkam sie, denn sie durfte die Erinnerungen an ihre wirklichen Eltern nicht vergessen.
Im März brach innerhalb weniger Tage der Lenz hervor. Nicht nur die Pflanzen, so kam es Fine vor, sondern auch ihr eigenes Gemüt wurde überschwemmt von neuen Regungen. Noch nie hatte sie die Veränderungen in ihrer Umgebung als so überwältigend empfunden. Ihr war, als wenn die ganze Welt sich auftäte vom Frühling. Fine hätte die tausend Stimmen der Natur, die sie umflossen, das tausendfältige Knospen und Gedeihen am liebsten für immer festgehalten. Sie mühte sich, all die Eindrücke in sich aufzunehmen. Und doch fühlte sie sich eher hilflos mitgerissen von dem, was überall sang und spross.
Kurz vor Ostern kam ihr letzter Schultag, der mit einer Heiligen Messe und einer anschließenden Feststunde im Schulgebäude begangen werden sollte. Schon früh am Morgen legten Fine und Marjann ihre Sonntagskleider an.
Für den heutigen Tag hatte Fine sich statt des üblichen Zopfes eine besondere Frisur gewünscht. Marjann tat ihr gern den Gefallen. Sie flocht Fines Haar zu zwei Zöpfen und legte den einen von rechts nach links, den anderen von links nach rechts über den Vorderkopf. Mit metallenen Klemmen steckte sie die Zopfenden am Nacken fest.
»Es sieht aus wie ein Diadem, das Königinnen tragen«, lachte Marjann auf. »Ein Schmuck aus Haaren!«
Fine dankte der alten Frau für die Mühe und ging in die Schlafkammer. Dort schaute sie in einen kleinen Spiegel und war zufrieden mit dem, was sie sah. Doch während sie sich so betrachtete, fiel ihr auf, dass sich an ihrem Hals rötliche Flecken gebildet hatten.
Marjann, die ihr von der Küche in die Kammer gefolgt war, beruhigte sie. »Das vergeht. Es ist nur die Hitze der Aufregung.«
Fine nickte. »Aufgeregt bin ich wahrlich. Und ich werde es wohl auch bleiben. So lange, bis der Vormund mir seine Zustimmung gegeben hat.«
»Also willst du bei deiner Entscheidung bleiben?«
»Sicher. Ich werde ihm alles so sagen, wie wir es besprochen haben. Falls er sich nicht darauf einlässt, werde ich eine Eingabe beim Gemeinderat machen. Denn schließlich will ich ab heute kein Kostgeld mehr haben. Und solange ich ein rechtschaffenes Leben führe und den Steuergebern nicht auf der Tasche liege, sollte es dem Vormund gleich sein, von welcher Arbeit ich mich nähre.«
»Ich wünsche dir alles Glück der Welt, mein Mädchen«, Marjann küsste sie auf beide Wangen.
»Danke, Tante«, sagte Fine aufrichtig. »Ihr selbst habt mich ja gelehrt, mich nicht entmutigen zu lassen. Schließlich sagt Ihr immer: Wer nicht will, dass ihm die Hände frieren, der muss eine Faust machen. Und Ihr sagt auch: Das mit der Faust gilt im körperlichen Sinne wie im geistigen. Und so will ich es heute tun. Eine Faust machen und klar sagen, was ich für mein Leben anstrebe.«
»Kind, Kind. Wenn du dich nur nicht übernimmst in deinem Überschwang.« Marjann seufzte, aber es lag doch eine große Anerkennung in ihrer Stimme. »Denn da ist ja noch etwas, was ich oft denke: Auch in dir steckt die Seele einer Eigenbrötlerin. Und auch wenn es später so sein sollte, dass du einen Mann hast und Kinder und dein Brot nicht allein bäckst: Du hast deinen eigenen Kopf, und von dem bringt dich nichts ab.« Sie überprüfte noch einmal die Klammern in Fines Haar und strich ihr aufmunternd die Stirn.
Die beiden warfen ihre sonntäglichen Wolltücher über die Schultern und machten sich zur Kirche auf. An der Friedhofshofmauer entlang gingen sie auf das Portal der Kirche zu.
Wie es schien, wurde Fine mit jedem Schritt aufgeregter, und Marjann sprach ihr gut zu. »Es ist doch ein Glück, dass du die Schule besuchen durftest. Da hast du wirklich viel mitgenommen, was dir im Leben nützen wird. Wenn ich an meine Zeit denke: Selbst als ich schon eine junge Ehefrau war, konnte ich weder lesen noch schreiben. Beides habe ich ja erst gemeinsam mit meinen Kindern gelernt. Die haben es mir beigebracht, wie sie in die Schule kamen.«
Fine nickte und
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