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Das Maedchengrab

Das Maedchengrab

Titel: Das Maedchengrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadja Quint
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Weiterhin schrieb er drei oder vier Mal im Jahr, ungefähr zwei Monate brauchte die Post von Portland bis in die Eifel. Natürlich schrieb Marjann ihm regelmäßig zurück. Oft besprach sie sich mit Fine, was sie ihm aus dem Dorf berichten sollte, und manchmal hatte Fine auch selbst einen eigenen kleinen Abschnitt unter Marjanns Briefe nach Amerika gesetzt.
    Es fiel Fine auf, dass Hannes in seinen Briefen niemals erwähnte, weshalb genau er ausgewandert war.
    Aber warum sollte er das auch tun, überlegte Fine. Marjann kannte schließlich die Gründe dafür und erzählte immer wieder davon: Hannes hatte im Dorf keine gut bezahlte Arbeit gefunden. Er wollte in die Fremde gehen, um für den Lebensabend seiner Mutter ausreichend zu sorgen. Anfangs hatte er überlegt, sich in Lothringen oder dem Ruhrgebiet als Bergmann zu verdingen. Doch selbst dort ließ sich nicht viel erwirtschaften im Vergleich zu den Möglichkeiten in Amerika. Darum hatte er mit sechzehn Jahren eine günstige Gelegenheit beim Schopfe gepackt und den frei gewordenen Platz eines anderen Mannes übernommen. Der hatte wegen einer schweren Krankheit seine Schiffspassage absagen müssen.
    Noch etwas fiel Fine an Hannes Briefen auf: Niemals kam darin der Name Lisbeth vor. Doch auch das schien Fine nicht weiter verwunderlich. Wenn Hannes nie etwas mit Lisbeth zu tun gehabt hatte, warum sollte er sie dann erwähnen?
    Manchmal überlegte Fine, Marjann einfach darauf anzusprechen. Aber wäre das klug gewesen? Der Verdacht gegen Hannes war letztlich nie erhärtet worden, obwohl die Polizei eindringlich geforscht hatte. Also ließ Fine die Geschichte ruhen und schwieg – genau wie sie es Ulla versprochen hatte.
    In der dritten Woche nach Ostern trat die Sonne wieder hervor. Sie leuchtete hell in die offenen Blüten und auf die sanft wogende Saat der Gärten und Felder. Endlich sollte Fine ihren Dienst als Gänsehirtin beginnen. Wegen der feuchten Witterung hatten die frisch geschlüpften Küken anfangs im Stall bleiben müssen. Inzwischen trugen sie um ihre Beine metallene Ringe, in die das Zeichen des Eigentümers gestanzt war.
    Mit dem Gänsehüten hatte Fine bisher keine Erfahrung, und gerade zu Anfang ihres Dienstes kam eine nicht eben leichte Aufgabe auf sie zu: Sie sollte alle Gänseküken des Dorfes gemeinsam mit ihren Müttern in einer Herde zusammenfassen.
    Am Vorabend hatte Fine sich aus einer Kopfweide einen Trieb abgeschnitten, der ihr als Gerte dienen sollte. Damit in der Hand trat Fine am ersten Tag ihres neuen Dienstes vor die Tür. Sie überlegte, wo sie mit dem Einsammeln der Gänse anfangen sollte, und entschied sich für das Haus des Ravenzachers. Seitdem er und seine Frau die Quartierseltern für Basti geworden waren, war auch Fine dort regelmäßig zu Gast, sie kannte den Haushalt gut. Der Ravenzacher stand weiterhin in dem Ruf, seine Angehörigen gern zu ärgern und zu bevormunden. Seine Frau hingegen hatte sich Basti gegenüber als warmherzige Quartiersmutter erwiesen. Manche im Dorf fürchteten allerdings ihre allzu direkte Art. Wenn ihr an anderen Menschen etwas missfiel, äußerte sie das meistens geradeheraus und dem Betroffenen mitten ins Gesicht. Dennoch war Fine davon überzeugt, dass die Ravenzacherin ihr Herz am richtigen Fleck trug.
    Als Fine an diesem Morgen das Haus betrat, hatte Basti sich schon zur Schule aufgemacht. Auch der Ravenzacher war unterwegs. Als Heiratsmacher hatte er reichlich zu tun. Viele der großen Eifel-Höfe litten noch immer unter den Folgen der häufigen Missernten im vorletzten Jahrzehnt. Da schien es den Großbauern umso wichtiger, dass sie ihr Vermögen zusammenhielten und ihre Söhne und Töchter gut miteinander verheirateten: Geld musste zu Geld kommen. Und für solche Eheverträge sorgte der Ravenzacher.
    Fine war es recht, ihn an diesem Morgen nicht anzutreffen. Seine Frau begrüßte sie und fragte gleich danach, welche Kenntnisse Fine schon im Gänsehüten hatte.
    Da sie zugeben musste, in dieser Aufgabe ein Neuling zu sein, stemmte die energische, kleine Frau ihre Fäuste in die ausladenden Hüften und meinte mit kaum verhaltenem Spott: »Nun, mein Mädchen. Was sonst die närrischen Kinder im Dorf erledigen, das wirst du gewiss auch bewältigen. Und bei dir können wir uns wenigstens sicher sein, dass du nicht im Irrsinn die Tiere zu Tode bringst.«
    Fine spürte wohl, dass dieses Lob nur allzu zweischneidig war. Gern hätte sie schlagfertig darauf geantwortet, aber da sie die Ravenzacherin nicht

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