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Das Maedchengrab

Das Maedchengrab

Titel: Das Maedchengrab Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadja Quint
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Wenn sich nun aber aus verschiedenen Ställen eine neue Herde erst bilden muss, braucht es ein paar Tage. Dann werden sie dich als Hirtin erkennen, und du wirst kaum noch Mühe haben.«
    Fine nickte. »Ich stelle mir vor, die Gänse sind deswegen dumm, weil sie so vieles können, aber auf nichts davon wirklich ausgerichtet sind. Sie können schwimmen und laufen und fliegen, sind aber weder im Wasser noch auf dem Boden noch in der Luft so richtig zu Hause. Und das macht sie dumm.«
    »Kind, Kind«, Marjann schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Was du nur für Gedanken hast. So eigenwillig und dabei doch so klug. Wie ich schon oft gesagt habe: In dir steckt etwas von einer Eigenbrötlerin.«
    Fine musste lachen: »So etwas Ähnliches hat mir heute Morgen schon jemand gesagt.«
    »Tatsächlich? Und wer?«
    »Die Ravenzacherin. Wir sprachen über die Gänsehirtinnen, die im Märchen zu Königinnen werden. Und ich war mir sicher, dass es mir eines Tages auch so gehen würde.«
    »Und sie hat dir zugestimmt?«
    »Das hat sie«, erwiderte Fine ausgelassen. »Wobei sie nicht so weit gehen wollte, mich mit einer Krone auf dem Kopf zu sehen. Aber dass gerade mein Eigensinn mir zu meinem Glück verhelfen könnte, das meinte sie auch.«
    Liebevoll legte Marjann einen Arm um Fine. »Na, wenn an einem einzigen Tag gleich zwei alte Frauen dir so etwas sagen, dann muss ja etwas daran sein.«
    »Das wird es wohl, Tante.« Fine schmiegte ihre Wange gegen Marjanns Hand. Die Anstrengung des Tages hatte sie schon vergessen, so behaglich fühlte sie sich.
    Marjann brühte eine Kanne mit Melissenblättern auf, die sollten beruhigend auf Fine wirken. Noch eine Zeit lang saßen die beiden in guter Stimmung beisammen und tauschten sich aus.
    Es war später Abend, als Fine sich in die Schlafkammer im Schuppen zurückzog. Da der Garten schon im Dunkel lag, nahm sie ein Windlicht mit und achtete gut darauf, denn die verwitterten Balken des Schuppens hätten rasch Feuer gefangen. Inzwischen waren es mehr als zwei Wochen, die sie Nacht für Nacht hier schlief. Dabei fühlte sie sich rundherum wohl. Angenehm ermüdet vom Tag streckte Fine sich unter dem Federbett aus. Der Melissentee tat seine Wirkung, sie schlummerte rasch ein.
    Doch leider sollte in dieser Nacht etwas geschehen, das Fines Erholung ein rasches Ende bereitete: Ihre Angst, die sie in wachem Zustand noch gut beherrschen konnte, brach jetzt im Traum hervor – um vieles stärker und schlimmer, als sie am Abend noch gewesen war.
    Fine träumte, dass sie allein mit den Gänsen nachts auf dem Weideplatz stand. Das Federvieh hatte sich in engem Kreis um sie aufgestellt und reckte ihr die weit aufgerissenen Mäuler entgegen. Böse, zischende Schreie richteten die Vögel gegen Fine. Ihre spitzen Schnäbel stießen sie mit voller Wucht gegen den Leib des Mädchens. Sie versuchte, dem grausamen Treiben zu entkommen, doch keine Lücke wollte sich zwischen den Körpern der Tiere auftun. Es gab kein Entrinnen. Immer lauter schrien die Tiere, immer heftiger hackten sie auf Fine ein. Sie rief um Hilfe, lauter und lauter, schrie gegen das Gellen der Tiere an. Doch keine Menschenseele kam, niemand half. Fast schon hätte sie sich dem Kampf ergeben und fallen lassen. Dann hätten die Tiere sie im nächsten Moment tot gebissen. Aber plötzlich, in letzter Sekunde, konnte sie doch noch dem Pulk der Gänse entkommen. Schon am Ende ihrer Kräfte floh sie auf die freie Wiese und fand dort ihre Gerte. Damit schlug sie auf die Vögel ein, die sich nun ängstlich duckten und von Fine in den Pferch treiben ließen. Knallend schloss sie die Holztür, schob den Riegel vor und rannte fort, so schnell ihre Beine sie tragen konnten.
    Was war das? Vom Geräusch eines lauten Schlagens erwachte Fine. Sie richtete sich im Bett auf und starrte in die Dunkelheit. Der Schreck fuhr ihr in die Glieder. Die Bilder vom Kampf mit den Gänsen ließen sie nicht los. So gut sie irgend konnte, versuchte sie, die Erinnerung daran fortzuschieben. Aber hatte sie all die Eindrücke der letzten Minuten bloß geträumt? Auch das Zuschlagen einer Tür? War sie von einem tatsächlichen Geräusch erwacht? Oder trogen sie ihre Sinne?
    Nutz deinen Verstand!, sprach sie sich selbst zu. Deine Vernunft muss siegen! Lass dich nicht einschüchtern von einem Traum, der nichts ist als ein flüchtiges Gespinst der Nacht und am helllichten Morgen wieder vergessen sein wird.
    Doch so sehr sie sich auch zuredete, lähmte weiter die Angst ihren Körper.

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