Das Maedchengrab
Unentschlossen blieb sie im Bett sitzen und wusste nicht, ob sie sich wieder niederlegen oder lieber ganz erheben sollte. Einen Moment lang schloss sie die Augen und horchte in den Raum, es herrschte vollkommene Stille. Doch je länger kein Geräusch an ihr Ohr drang, umso stärker hallte das Türknallen in ihrem Gedächtnis nach. Fine wandte ihren Blick zu dem kleinen Fenster. Die Vorhänge hatte sie wie jeden Abend zugezogen. Dämmriges Licht fiel durch den blauen Stoff, sie konnte die Umrisse der Möbel erkennen.
War denn schon Morgen? Ihrem Gefühl nach hatte sie erst wenige Stunden geschlafen, demnach musste noch tiefe Nacht sein.
Verärgert über ihre eigene Furchtsamkeit zwang sie sich aufzustehen und tastete sich zum Fenster. Sie schob den Vorhang beiseite und erkannte, dass die Morgendämmerung noch nicht eingesetzt hatte. Also hatte ihr Gefühl sie nicht getrogen. Ein kreisrunder Mond erhellte die Nacht. Als Fine die strahlende Scheibe betrachtete, fiel die Angst von ihren Schultern ab. Am gestrigen Abend hatten noch dichte Wolken den Himmel verhangen, deswegen war ihr der Vollmond nicht aufgefallen.
Nun atmete sie erleichtert aus: Das war es also! Der Mond hatte schuld an ihrem schlechten Schlaf. Dass sie in Vollmondnächten heftiger und meist auch schlechter träumte als sonst, kannte Fine von sich. Sie wusste, es ging vielen Menschen so. Dann hatte sie bestimmt auch das Knallen bloß geträumt.
Eigentlich hätte Fine sich nun wieder hinlegen können, doch ein vages Gefühl sagte ihr, dass es besser wäre, nach dem Haus zu schauen. Sie öffnete lautlos die Schuppentür und trat in den Garten. Die im auffrischenden Wind klare Luft half ihr, die Sinne zu ordnen. Ohne jede Furcht ging sie den Weg entlang zu Marjanns Haus und legte ihr Ohr an das Fenster der Schlafkammer. Sie vernahm die vertrauten Schnarchgeräusche der alten Frau. Beruhigt kehrte Fine in ihre eigene Kammer zurück und fand erstaunlich rasch wieder zur Ruhe.
Als Marjann sie um fünf Uhr weckte, hatte sie den Traum nahezu vergessen. Lediglich das Knallen der Tür kam ihr wieder in den Sinn.
»Kann es sein, dass heute Nacht ein Fuchs am Haus war?«, fragte Fine beim Frühstück.
Marjann zuckte die Schultern. »Alle Tiere sind in ihren Gehegen gut verwahrt. Selbst wenn ein Fuchs kommen sollte, könnte er unseren Hühnern nichts anhaben. Aber warum fragst du? Hast du etwas gehört?«
»Ich weiß nicht. Es war ja Vollmond. Irgendwie habe ich schlecht geträumt.«
»Dann stärke dich, Kind«, Marjann goss frische Ziegenmilch in Fines Tasse. »Die Gänse warten.«
»Gewiss, Tante«, Fine trank ihre Milch aus.
Kurz darauf machte sie sich auf zu den Hollerwiesen. Wie sie sich noch einmal zu Marjanns Haus umdrehte, sah sie einen weiße Taube auf dem Fenstersims sitzen. Im selben Augenblick flog der Vogel auf – genau in die Richtung, die auch Fine einschlagen musste. Fast kam es ihr so vor, als würde die Taube den Weg weisen in den klaren und sonnigen Morgen. Dies wertete sie als Zeichen für einen guten Tagesbeginn. Sie schöpfte erquickenden Atem, und mit der Taube flogen auch die Schatten ihres Albtraums davon.
Der Gendarm
Es war ein fröhliches, doch anfangs auch mühsames Amt, das Fine übernommen hatte. Besonders schwierig war es, den Gänsen beizubringen, dass sie in ihrer Nähe bleiben mussten. Morgens, wenn sie den Pferch öffnete, drängten die Gänse mit lärmendem Geschnatter hinaus und hinterließen eine Staubwolke auf den Hollerwiesen. War diese Wolke dann verflogen, bereitete es Fine einige Mühe, zu verhindern, dass ihre Schützlinge sich zu weit voneinander entfernten. Auch ärgerte es sie, dass die Tiere kaum voneinander zu unterscheiden waren. Sie konnte nicht sagen, ob es ganz bestimmte Tiere waren, hinter denen sie herrennen musste, oder immer wieder andere. Um die Arbeit zu erleichtern, gewöhnte Fine sich an, das Geschnatter der Gänse nachzuahmen. Belustigt stellte sie fest, dass die Tiere sie daraufhin für ihresgleichen hielten und ihr leichter folgten. So verschaffte sie sich in der Herde ein höheres Ansehen und brauchte nicht mehr so häufig die Gerte einzusetzen.
Nachdem es Fine immer besser gelang, die Tiere beisammenzuhalten, kam ein neues Problem auf, über das sie sich ärgerte: Oft langweilte sie sich. Eine Arbeit als Jungmagd auf dem Hof des Oberlandbauern wäre zwar anstrengender, aber sicher auch abwechslungsreicher gewesen. Doch nun hatte sie sich ja mit solcher Anstrengung dafür eingesetzt, bei
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