Das Maedchengrab
Marjann wohnen zu bleiben – da musste sie eben als Gegenleistung den Gänsedienst in Kauf nehmen.
Glücklicherweise waren die Hollerwiesen kein einsam abgelegener Platz. Seitlich vorbei führte ein Feldweg nach Blankenheim. Mit Ackerfuhrwerken allerlei Art zogen hier die Bauern mit ihrem Gesinde vorüber. Mägde und Knechte gingen hin und her, bei sich trugen sie Hacke, Sense und Sichel. Auch andere Menschen, die in Blankenheim tätig waren und im Land herum wohnten, querten den Ort. Doch dieser Betrieb beschränkte sich meistens auf die Morgen- und Abendstunden. Tagsüber konnte es geschehen, dass Fine stundenlang keine Menschenseele zu Gesicht bekam.
Um sich nicht übermäßig zu langweilen, gewöhnte sie sich das Träumen als Zeitvertreib an. Dann erschien ihr der Gänseplatz mit seinen Bäumen und der Wassertränke mit der Schwengelpumpe wie eine stille Märchenwelt. Häufig stand sie an einem der Birnenbäume oder lag im Gras und konnte zusehen, wie der Schatten der windbewegten Zweige lebendige Muster auf die Erde warf. Auch blickte sie oft in den Himmel und erfreute sich an Wolkenbänken, die in den Strahlen der Sonne farbig aufleuchteten. Manchmal, wenn sie die Wolkenbilder lange betrachtet hatte, kam es ihr vor, als würde statt der Wolken vor ihren Augen ein Mensch auftauchen: ein Mädchen in weiten Röcken mit flatternden Haaren, und seine Umrisse verschmolzen mit den Wolkenbildern und zogen am weiten Himmel davon.
Es war ein ganz bestimmtes Mädchen, das Fine in ihren schweifenden Gedanken begegnete: Es war die junge Lisbeth, die auf so grausame Weise ihr Leben lassen musste und deren Tod noch immer nicht aufgeklärt war. Der Gedanke an Lisbeths Ermordung hatte Fine all die Zeit nicht losgelassen. Dass sie während des Gänsehütens immer wieder darüber nachsann, mochte allerdings einen bestimmten Grund haben. Denn unter den Menschen, die regelmäßig den Weg an den Hollerwiesen nahmen, befand sich der junge Gendarm Gerd. Fine kannte ihn von klein auf, er stammte ebenfalls aus Reetz und war ein gutes Dutzend Jahre älter als sie selbst. Sie wusste, dass er als Landjäger bei der Polizeistation in Blankenheim tätig war. Ab und zu begegnete er ihr im Dorf.
Bisher wäre es ihr nicht in den Sinn gekommen, Gerd auf Lisbeths ungeklärten Tod anzusprechen. Durch das Gänsehüten aber sah sie ihn fast täglich, wenn er auf seinem Arbeitsweg den Gänseplatz mit nur gut hundert Ellen Entfernung passierte. Und immer, wenn er vorbeikam, winkte er Fine zu, und sie winkte zurück, aber sie ging nicht zu ihm. Zum einen musste sie bei ihren Gänsen bleiben, und zum anderen hätte es sich für ein Mädchen ihres Alters nicht geschickt, einen jungen Mann einfach so anzusprechen. Fine erkannte wohl, dass Gerd ein schmucker Bursche war mit kräftiger, eleganter Körperstatur. Sicherlich verrichtete er seine Arbeit als Polizist mit großem Fleiß und Ehrgeiz, dachte sie, und es hätte sie gereizt, mit ihm ein Gespräch zu beginnen. Aber sie wollte nicht aufdringlich wirken, zumal der Mord an Lisbeth sie nichts anging. Trotzdem hoffte sie, dass sich eine Gelegenheit finden möge, mit Gerd zu sprechen.
Vielleicht erfuhr eine höhere Macht von Fines Wunsch, vielleicht war es auch nur ein glücklicher Zufall, als eines Abends die Schwarze Marjann beim Abendbrot berichtete: »Übrigens hat es gestern hier im Dorf eine Verlobung gegeben, wenn auch nur im engsten Kreis.«
»Und bei wem?«, fragte Fine sogleich.
»Gudrun und Gerd. Die beiden wollen nächstes Jahr heiraten. Aber ihre Verlobung haben sie nicht groß gefeiert, denn Gudruns Vater ist ja schwer krank.«
Fine kannte die zwanzigjährige Gudrun, deren Mutter schon seit Jahren tot war. Seitdem pflegte die junge Frau ihren siechen Vater und verrichtete nebenher einige Schneider-Arbeiten im Dorf.
»Das ist schön. Die beiden passen gewiss zueinander und sind ein treffliches Paar.« Fine strahlte.
Dabei war es nicht nur so, dass sie sich mit den Brautleuten freute, sondern es kam ihr ein weiterer Gedanken: Nun gab es für sie einen vortrefflichen Grund, Gerd anzusprechen.
Kaum hatte Fine am nächsten Morgen die Gänse aus dem Pferch gelassen, da sah sie schon von Weitem, wie Gerd aus dem Dorf in Richtung Blankenheim ging und wie immer grüßend den Arm hob. Sie winkte zurück, ging aber nicht zu ihm, denn sie wollte lieber auf den Abend warten, wenn er sich gewiss leichter Zeit für eine Unterredung nehmen konnte. Üblicherweise kehrte er mit dem
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