Das Maedchengrab
wütete, erhob Fine sich aus ihrer Kuhle und lief ihm entgegen.
Mit triefender Hose und Jacke kam Basti unter schwer fallenden Tropfen bei seiner Schwester an. Bis auf die Haut war er durchnässt, aus seinen klebenden Haaren rann das Wasser. »Es ist etwas geschehen!«, rief er verzweifelt. Nass, wie er war, und ganz außer Atem fiel er seiner Schwester um den Hals, während über Wald und Wiese die Blitze heruntergingen und sich der Regen in stetigem Grau ergoss.
Seine Aufregung ging auf Fine über. »Was ist es?!«, schrie sie, doch statt zu antworten, klammerte Basti sich immer fester an sie und drückte seinen Kopf gegen ihren Hals, dass sie kaum noch Luft bekam.
Hastig stammelte er: »Ein Unglück, Fine, ein schreckliches Unglück! Bärbel ist tot!«
»Bärbel?!«, entfuhr es Fine entsetzt. Nun verstand sie, warum Basti so froh war, seine Schwester unversehrt bei den Gänsen zu finden. Ein Zittern durchfuhr Fine, und sofort hatte sie die Bilder vor Augen: Die letzte Begegnung mit Bärbel im Haus des Oberlandbauern, als sie Fine so unerwartet streng und abweisend behandelt hatte. Fine schloss die Augen. Ein Empfinden erfasste sie, wie sie es noch nie erlebt hatte, so als stiege eine Leere in ihr auf und ihre Seele entferne sich aus ihrem Körper. Nur noch vage fühlte sie, dass ihr Bruder sie immer noch fest umschlang und sie beide mit triefenden Kleidern aneinander zu kleben schienen.
Aber im selben Augenblick, in dem Fine von Bärbels Tod erfuhr, schien aller Groll auf die ehemalige Schulkameradin vergessen, zu schrecklich war die Nachricht von ihrem Tod.
Mit den nächsten Blitzen, die über den Himmel zuckten, erfasste ein kalter Schock Fines Glieder. Ruckartig löste sie sich aus der Umarmung, während sie gleichzeitig Bastis Hand ergriff. »Komm weg hier! Komm! Wir dürfen hier nicht stehen bleiben!« Sie zog Basti zur Senke, ging in die Hocke und zwang ihn zu sich herab.
Und wie sie ihren Bruder nun angstvoll ansah, erkannte er, welche Fragen sie bewegten. »Man hat sie ermordet«, brachte er zitternd hervor. »Mit einem Schnitt hier.« Er deutete ein Halbrund von Ohr zu Ohr an.
»Also genau wie die Lisbeth auf dem Friedhof!« Fine hielt den Atem an vor Schrecken.
»Wohl genauso. Und es war dort drüben ...« Basti zeigte auf ein nach Freilingen gelegenes Waldstück. »Am Waldrand bei den großen Buchen, in einem Graben, nicht weit von der Straße entfernt. Die Ravenzacherin hat sie gefunden, denn sie war Pilze sammeln. Ungefähr vor einer Stunde war das. Als das Gewitter losging.«
»Aber das heißt ja ...?« Fine sprach nicht weiter, so sehr lähmte sie ihr Entsetzen.
Doch Basti führte ihre Gedanken fort. »Richtig. Es ist nicht weit von der Stelle passiert, wo damals die Lisbeth lag. Und nun, zehn Jahre später, die Bärbel.«
»Warst du etwa dort!?« Fine erschauerte bei dem Gedanken.
»Das nicht, und ich will es mir auch gar nicht ansehen. Aber einige Männer haben sich sofort aufgemacht, zu der Stelle, wo Bärbel liegt. Und der Großknecht vom Vormund ist los geritten, um Gerd Bescheid zu sagen. Die Gendarmen sind bestimmt bald bei Bärbel im Wald, und wir alle dürfen nicht mehr dorthin.«
Fine kam es vor, als greife noch immer eine kalte Hand nach ihrem Herzen, ihr stockte der Atem. Doch ihre Neugierde war größer als ihr Schrecken, darum fragte sie: »Hat man denn dort jemanden gesehen oder weiß man, wer es getan haben könnte?«
»Nein. Man muss abwarten. Aber alle Leute im Dorf sprechen darüber, dass Lisbeth und Bärbel auf dieselbe Weise ermordet wurden. Und dass es wohl derselbe Täter ist. Ich habe bei Marjann Bescheid gegeben, dass ich jetzt zu dir auf die Wiese komme. Und wenn ich nicht rasch zurück bin, dann geht es dir gut und ich bleibe bei dir und gebe auf dich acht.«
»Wie schrecklich das alles ist!« Fine kamen die Tränen. Entsetzt und dankbar zugleich drängte sie sich eng an Basti.
»Soll ich dich zurück ins Dorf bringen?«, fragte er.
Fine starrte in den Himmel. Immer noch gingen über dem Wald die Blitze nieder.
»Nein«, entschied sie. »Solange es gewittert, will ich bei den Gänsen bleiben. Zudem ist es hier auf der offenen Wiese sicherer als im Dorf, und noch nasser können wir ohnehin nicht mehr werden.«
Basti war einverstanden. Die Geschwister blieben in der Senke sitzen, während der Regen weiter auf sie einprasselte. Unentwegt schauten sie in Richtung des Feldweges, der als Nebenstrecke die Orte Reetz und Blankenheim verband. Dort ließ sich
Weitere Kostenlose Bücher