Das Maedchengrab
Gedanken. Aber so waren sie wohl, die Menschen.
Kurz nachdem der Kirchturm zehn Uhr geschlagen hatte, kam doch noch jemand den Feldweg entlang: Gerd, der junge Polizist. Fine erkannte sofort, dass er nicht auf seinem üblichen Gang zur Dienststelle war, sondern direkt auf den Hüteplatz zusteuerte. Sie begrüßten einander und tauschten sich aus über das furchtbare Geschehen.
»Meine Kollegen und ich suchen schon seit dem frühen Morgen nach Zeugen«, Gerd zog eine Kladde samt Bleistift hervor. »Darum auch an dich die Frage, Fine: Was hast du gestern gehört oder gesehen? War irgendeine Sache anders als sonst? Ist dir etwas aufgefallen?«
Doch Fine konnte ja nur sagen, dass sie den ganzen Tag bei den Gänsen gewesen sei, erst auf dem Kleefeld und dann hier auf den Hollerwiesen, und nichts Auffälliges bemerkt habe.
Gerd machte sich Notizen. »Unsere große Schwierigkeit ist, dass der Regen die meisten Spuren fortgewaschen hat«, erklärte er. »Deswegen ist es umso wichtiger, Zeugen zu finden.«
»Es tut mir leid, Gerd. Mehr kann ich dir nicht sagen. Am Mittag habe ich mit Ulla gesprochen, da war wohl noch alles ruhig im Dorf. Und später, als das Gewitter im vollen Gange war, kam dann Basti zu mir und hat von dem Unglück erzählt.«
Gerd nickte. »Ulla und Basti haben wir auch schon befragt, eure Aussagen stimmen überein.«
Er fragte weiter, inwieweit Fine und Bärbel einander gekannt hatten, und Fine erzählte freimütig von der gemeinsamen Schulzeit. Auch dass Bärbel die Stelle als Jungmagd bekommen hatte, die ursprünglich für Fine vorgesehen war, erwähnte sie. Und wie Bärbel sie vor einigen Wochen unwirsch und abweisend behandelt hatte.
»Kannst du dir denn vorstellen, warum sie sich plötzlich so verändert war?«, hakte Gerd nach.
»Ich weiß es nicht«, beteuerte Fine. »Aber vielleicht kann Ulla etwas dazu sagen, denn die beiden haben ja eng miteinander gearbeitet.«
»Da ist noch etwas«, erwiderte Gerd eindringlich, während er mitschrieb. »Neulich haben wir ja darüber gesprochen, dass Lisbeth vielleicht den Mann liebte, der sie später ermordete. Darum stellt sich nun die Frage: Kann es sein, dass auch Bärbel einen Mann liebte? Weißt du etwas über die Menschen, mit denen Bärbel in besonders enger oder ungewöhnlicher Weise Umgang pflegte? Leute aus dem Dorf oder auch Fremde?«
Fine schüttelte entschieden den Kopf. »Sicher nicht. Sonst würde ich es dir sagen. Doch es gibt etwas, was du wissen sollst, denn ich will ganz ehrlich sein. Nur eins musst du mir versprechen.«
»Und was, Fine?«, fragte Gerd nachdrücklich.
Sie suchte seinen Blick und sagte aufrichtig: »Versprich mir bitte, dies zu verstehen: Was ich dir jetzt sage, sind nur Überlegungen von mir. Ich weiß nichts Sicheres. Und ich möchte niemanden in Verdacht bringen, der in Wirklichkeit unschuldig ist. Denn das könnte ich mir selbst nicht verzeihen.«
»Natürlich verspreche ich dir das«, entgegnete Gerd mit großem Ernst. »Aber auch wenn es bloß Überlegungen sind, so können sie doch maßgeblich für die Polizei sein und uns vielleicht auf eine wichtige Spur führen.«
»Gut.« Fine vertraute dem jungen Gendarm. »Also sollst du wissen, was mir widerfahren ist, bevor ich zum Oberlandbauern ging und Bärbel sich dort so unfreundlich verhielt.« Sie erzählte von der Begegnung mit dem Lohbauern und vom Taler, den er ihr aufgedrängt hatte.
»Und danach hast du den Lohbauern nie wieder gesehen?«, fragte Gerd.
»Nein. Vermutlich hat er seitdem nicht mehr den Feldweg genommen, sondern immer nur die Hauptstraße.«
Gerd, der bisher eifrig mitgeschrieben hatte, hielt inne. »Aber das spricht doch für ihn. Er hat gemerkt, dass dir die Begegnung unangenehm war, und danach wollte er dich nicht wieder in Verlegenheit bringen.«
Fine senkte den Kopf. »Ja, das habe ich ja auch gedacht. Aber jetzt ...«
Gerd nickte verständig. »Jetzt wo die Bärbel tot in der Nähe der Hauptstraße gefunden wurde, da fragst du dich: Vielleicht hatte der Lohbauer auch der Bärbel einen Taler gegeben? Und das nicht eben in ehrenvoller Absicht?«
»Dabei will ich ihm ganz sicher nichts Böses unterstellen. Ich dachte nur ...«, Fine biss sich auf die Unterlippe, sie fühlte sich ertappt.
»Dass die Polizei von dieser Begebenheit wissen sollte«, führte Gerd ihren Satz fort und lächelte ihr aufmunternd zu. »Du hast ganz recht getan, es mir zu sagen. Ein solcher Zusammenhang ist ja tatsächlich nicht auszuschließen. Aber du
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