Das Maedchengrab
Noch nie war es ihr passiert, dass sie eingedöst war und darüber ihre Pflicht vergessen hatte. Nicht auszudenken, was den Gänsen hätte geschehen können, wenn Fine länger geschlafen hätte.
Verstört blickte sie auf und erkannte, dass die eine Seite des Himmels zwar in klarem Blau erstrahlte, sich aber über dem Wald nach Blankenheim hin schon dunkles Grau ballte. Sie horchte. Noch jubilierte eine Lerche in den Lüften, aber gleich darauf stieß ein Fink im Birnbaum einen klagenden Ton aus.
Immer mehr fliegende Wolken überzogen den eben noch blauen Teil des Himmels. Fine musste sich beeilen. Unter häufigem, wenn auch behutsamem Einsatz der Gerte scheuchte sie ihre Herde zusammen und trieb sie an. Auf dem Weg zum gewohnten Hüteplatz wurden die Tiere unruhig. Offenbar spürten sie, was sich anbahnte. Alle Natur schien wegen des heranziehenden Gewitters in Aufruhr versetzt. Fine kam mit ihren Tieren an einem Weiher vorbei, wo die Frösche so fürchterlich krächzten, dass die Gänse davon erschraken und verstört mit den Flügeln schlugen. Nur mit Mühe ließ sich die Schar beisammen halten.
Sobald sie die Hollerwiesen erreichten, war es, als zöge der Himmel sich von der einen auf die andere Sekunde zu. Die Birnbäume standen schwarz wie bedrohliche Gestalten, und bald wurde es so dunkel, als wäre es Nacht. Schon Sekunden später ließen rasch aufeinander folgende Blitze die Bäume im hellen Tageslicht erscheinen. Fine wurde geblendet. Sie musste kurz die Augen schließen und abwarten, sonst hätte sie nichts mehr gesehen. Von Panik ergriffen überlegte sie, ob sie die Gänse in den Pferch treiben sollte. Doch der war wegen der stetigen Winde über den Hollerwiesen eher niedrig gebaut und nach oben hin mit einem Drahtgitter abgesichert. Diese Bauweise, so günstig sie sonst auch sein mochte, barg bei Gewitter eine Gefahr für die Gänse. Der Blitz wählt immer den kürzesten Weg, so hatte Fine es in der Schule gelernt. Den höchsten Baum nimmt er sich oder das höchste Gebäude. Aber am allerliebsten hatte er Metall, denn dort konnte er sich am besten ausbreiten. Wenn die Gänse nun im Pferch waren, könnte es sein, dass der Blitz in das Drahtgitter über ihren Köpfen einschlug. Solange die Gänse mit ihren Schnäbeln nicht das Drahtdach berührten, würde nichts passieren. Das hatte der Lehrer erklärt. Doch in den letzten Jahren war es schon dazu gekommen, dass die Vögel genau in dem Augenblick aufflatterten, als ein Blitz durch den Draht ging. Dann waren sie im Bruchteil einer Sekunde verendet.
Während Fine noch unentschlossen war, ob sie die Gänse in den Pferch sperren sollte, schnatterten sie immer lauter vor Angst. Es war, als hätten sie eine Vorahnung von dem, was gleich geschehen sollte. Denn tatsächlich prasselte im nächsten Augenblick ein Hagel auf die Wiese. Die schwarzen Wolken schütteten ihre harte Fracht aus. Von den Körnern getroffen streckten die Gänse schreiend die Schnäbel empor, als könnten sie so dafür sorgen, dass der Hagel ihnen nicht das weiche Hirn einschlug.
Schnell musste es jetzt gehen! Schnell! Eilig riss Fine das Tor zum Pferch auf und trieb die Herde hinein. Geschickt setzte sie ihre Gerte ein und konnte nur hoffen, dass keines der Tiere mit den Flügeln schlagen und im Moment eines Blitzeinschlags das Drahtgitter berühren würde. Doch alles ging gut. Nah beieinander im vertrauten Pferch wurden die Tiere ruhiger, und Fine konnte durchatmen. Jetzt musste sie sich nur noch um sich selbst kümmern. Während Blitz auf Blitz niederging und jedem sogleich ein ohrenbetäubender Donner folgte, rannte Fine weg vom drahtumspannten Pferch und von den Bäumen. Eng zusammengekauert auf freiem Gelände war es für sie am sichersten. Mitten auf den Hollerwiesen gab es eine kleine Senke. Dort setzte sie sich hinein, zog die Knie nah an ihren Oberkörper und umschlang sie mit ihren Armen. So verharrte sie und nahm es hin, dass sie nasser und nasser wurde. Zwar ging der Hagel nach wenigen Minuten in Regen über, doch der schüttete umso heftiger, das Gewitter ließ an Stärke nicht nach.
Wie Fine weiter auf der Wiese kauerte, sah sie plötzlich, dass jemand auf sie zu rannte. Im Dunkel der Wolken nahm sie zunächst nur die Umrisse der menschlichen Gestalt wahr. Eine kleine, zierliche Person schwenkte erregt die Arme und schrie etwas, das Fine nicht verstand. Endlich erkannte sie: Es war Basti!
Obwohl der Regen noch längst nicht nachgelassen hatte und das Gewitter weiter
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