Das Magdalena-Evangelium: Roman
Frau, die ihr großes und ernstes Schicksal nur zu gut kannte.
An ihr Schicksal zu denken lag Maria in diesem Augenblick fern. Morgen wäre noch Zeit genug dazu. Sie hob ihren Kopf und sog die würzige Oktoberluft ein, die zusammen mit einer Brise vom See Genezareth heranwehte. Im Nordwesten erhob sich der Berg Arbel stolz und unerschütterlich in der Nachmittagssonne. Maria hatte ihn stets als ihren eigenen Berg betrachtet, jenen mit roter Erde bedeckten Fels in der Nähe ihres Geburtsorts. Und sie hatte ihn so vermisst. Die Familie hatte in letzter Zeit mehr Zeit in ihrem anderen Heim in Bethanien verbracht, da die Tätigkeit ihres Bruders die Nähe Jerusalems vonnöten machte. Doch Maria liebte die wilde Schönheit Galiläas und hatte mit Freuden die Ankündigung ihres Bruders vernommen, sie würden den Herbst hier verbringen.
Diese Zeit war ihr kostbar, diese Augenblicke der Einsamkeit, umgeben von wilden Blumen und Olivenbäumen. Rar waren die Momente, in denen sie allein sein konnte, und sie genoss jeden Augenblick, wenn sie es geschafft hatte, sich von allem fortzustehlen. Nur hier war sie in der Lage, die Schönheit von Gottes Schöpfung in Frieden auszukosten, unbehindert von den strengen Kleidervorschriften und Traditionen, die ihre Stellung mit sich brachten.
Einmal hatte ihr Bruder sie hier draußen erwischt undgefragt, was sie in den Stunden tue, in denen man sie »vermisste«.
»Nichts! Einfach gar nichts!«
Lazarus hatte seine kleine Schwester mit einem strengen Blick bedacht, sich dann aber rasch beruhigt. Er war wütend gewesen, weil sie nicht zum Nachmittagsmahl erschienen war, doch sein Zorn entsprang vor allem der Sorge, die nicht nur auf seiner Stellung als älterer Bruder gründete. Natürlich lag ihm seine schöne, kluge kleine Schwester sehr am Herzen, doch er war auch ihr Vormund. Ihre Gesundheit, ihr Wohlergehen waren das Wichtigste in seinem Leben. Sie musste beschützt werden, koste es, was es wolle; dies war Lazarus’ heilige Pflicht vor seiner Familie, seinem Volk und vor Gott.
Als er zu der kleinen Schwester gekommen war, die mit geschlossenen Augen und wie erstarrt im Gras lag, hatte er es mit der Angst zu tun bekommen. Doch dann, als hätte sie seine Furcht gespürt, hatte sich Maria geregt. Die schläfrigen Augen mit der Hand beschirmend hatte sie in das zornerfüllte Gesicht des Bruders geblickt.
Doch Lazarus’ Zorn verging, als sie zu ihm sprach. Zum ersten Mal verstand er, wie sehr Maria die seltenen Gelegenheiten des Alleinseins brauchte. Als einzige Tochter des Geschlechtes Benjamin war ihre Zukunft seit der Kindheit vorgezeichnet, ihr Geschick vorbestimmt durch ihre königliche Abkunft und die Prophezeiung. Maria sollte eine dynastische Verbindung eingehen, eine, die von den großen Propheten Israels vorhergesagt worden war – eine Ehe, die viele für nichts Geringeres als den Willen Gottes hielten.
So schmale Schultern für eine solche Bürde, hatte Lazarus gedacht, während er ihren Worten lauschte. Maria sprach in einer Weise, die sie sich sonst nicht erlaubte, offen und voller Gefühl. Mit plötzlichem Schuldbewusstsein erkannte der Bruder, dass ihre vorbestimmte Rolle in der Geschichte sie mit Angst erfüllte. Nun ging ihm auf, dass er sie selten als ganzenMenschen betrachtete, sondern eher als kostbares Gut, das beschützt und gepflegt werden musste. Dieser Pflicht hatte Lazarus mit bewundernswertem Eifer genügt. Doch er liebte die kleine Schwester auch – obgleich er sich, erst nachdem er seine Frau Martha kennen gelernt hatte, solche Gefühle – oder Gefühle überhaupt – in vollem Umfange zugestand.
Als der Vater starb, war Lazarus noch ein Jüngling gewesen. Zu jung vielleicht, um die gewaltige Verantwortung des Herrscherhauses, gepaart mit den Pflichten eines Landbesitzers, auf sich zu nehmen. Doch der junge Mann hatte seinem Vater auf dem Sterbebett geschworen, dass er das Haus Benjamin nicht im Stich lassen würde. Er würde sein Volk nicht enttäuschen, und er würde den Gott Israels nicht enttäuschen.
Mit großer Entschlossenheit ging Lazarus seine mannigfaltigen Verpflichtungen an, und seine Hauptaufgabe war die Sorge um seine Schwester Maria. Sein Leben bestand nur aus Aufgaben und Pflichten. Lazarus kümmerte sich um Erziehung und Bildung der Schwester, wie es ihrer edlen Herkunft anstand, doch den Luxus von Gefühlen erlaubte er sich nicht, denn diese bargen Gefahr.
Aber dann lernte er mit Gottes Segen Martha kennen.
Sie war die älteste
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