Das Magdalena-Evangelium: Roman
mehrmals in ihren Träumen gesehen, doch immer nur flüchtig. Stets hatte sie gemeint, es im nächsten Moment erfassen zu können, dann war es ihr wieder entglitten. Nun wandte er Maureen seine volle Aufmerksamkeit zu. Traumgebannt starrte sie den Mann an. Er war der schönste Mann, den sie je gesehen hatte.
Isa.
Und er lächelte sie an. In seinem Gesicht war so viel Würde und Wärme, dass Maureen davon durchdrungen wurde, als scheine ihr die Sonne selbst ins Gesicht. Sie rührte sich nicht, konnte nur reglos seine Schönheit und Anmut betrachten.
»Du bist meine Tochter, an der ich viel Freude habe.«
Seine Stimme war wie eine Melodie, ein Lied von Einheit und Liebe, dessen volle Klänge die Luft zum Vibrieren brachten. Einen unendlichen Moment schwebte Maureen auf dieser Musik, doch bei seinen nächsten Worten zerbrach der Zauber.
»Aber dein Werk ist noch nicht vollendet.«
Mit einem Lächeln wandte sich Isa, der Nazarener, der Menschensohn, wieder dem Tisch zu, auf dem seine Schrift ruhte. Das aus den Seiten schimmernde Licht wurde heller, die Buchstaben leuchteten wie blaue und violette Muster auf dem schweren leinenartigen Papier.
Maureen versuchte zu sprechen, aber die Worte wollten nicht kommen. Sie fand sich sämtlicher Fähigkeiten beraubt. Benommen konnte sie nur zuschauen, wie er eine Handbewegungzu den Blättern machte. Isa richtete seine Augen wieder auf Maureen und hielt ihren Blick einen ewigen Moment fest.
Dann glitt er mühelos auf sie zu und blieb direkt vor ihr stehen. Er sagte nichts mehr, sondern beugte sich vor und gab ihr einen väterlichen Kuss auf die Stirn.
Maureen erwachte. Sie war in Schweiß gebadet. Ihre Kopfhaut brannte, als hätte sie ein Brandzeichen bekommen, und sie war benommen und verwirrt.
Sie warf einen Blick auf die Uhr und schüttelte den Kopf, um zu sich zu kommen. Das erste tiefblaue Licht des Morgens drang durch die schweren Vorhänge, aber es war noch zu früh, um in Frankreich anzurufen. Sollte Berry ruhig noch ein paar Stunden schlafen.
Dann aber würde sie ihn anrufen – und verlangen, dass er ihr alles erzählte, was er über die letzte bekannte Ruhestätte des »Buches der Liebe« wusste. Des einzigen wahren Evangeliums nach Jesus Christus.
Nachwort
»Was ist Wahrheit?«
Pontius Pilatus, Joh 18, 38
Meine Reise die Magdalena-Linie entlang auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage des Pontius Pilatus begann mit Marie Antoinette, Lucrezia Borgia und einer keltischen Kriegerkönigin aus dem ersten Jahrhundert. Letztere ist in der Geschichte unter dem Namen Boadicea bekannt, und ihr im Walisischen überlieferter leidenschaftlicher Schlachtruf, »Y gwir erbyn y byd« , lässt sich mit »Die Wahrheit gegen die Welt« übersetzen. Diese Worte sind für mich zu einem persönlichen Mantra geworden, das mein gesamtes Erwachsenenleben umspannt und mich auf einem verschlungenen Pfad durch zweitausend Jahre Geschichte geführt hat.
Schon seit langem treibt es mich, unerzählte Geschichten auszugraben, Schichten menschlicher Erfahrung, die still und heimlich und manchmal absichtlich unter akademischen Berichten verborgen sind. Wie meine Protagonistin Maureen uns erinnert: »Geschichte ist nicht, was geschehen ist. Geschichte ist das, was niedergeschrieben wurde.« Allzu oft ist das, was wir als Geschichte kennen und akzeptieren, von einem Autor geschaffen worden, der damit konkrete politische Ziele verfolgt hat. Dieses Verständnis ließ mich schon in jungen Jahren zur Volkskundlerin werden. Ich empfinde es als ungeheuer befriedigend, Kulturen aus erster Hand zu erforschen und Lokalhistoriker und Geschichtenerzähler aufzusuchen, um so die echten menschlichen Chroniken zu entdecken, die man nicht in Bibliotheken und Lehrbüchern findet. Dank meiner irischen Abstammung habe ich schon immer die Macht mündlicherÜberlieferungen und gelebter Traditionen zu schätzen gewusst.
Mein irisches Blut trieb mich auch dazu, Publizistin und Friedensaktivistin zu werden, und als solche habe ich mich in den achtziger Jahren in die tumultartige Politik Nordirlands verstrickt. In jener Zeit habe ich dann auch eine zunehmende Skepsis aufgezeichneter und damit weithin akzeptierter Geschichte gegenüber entwickelt. Als Augenzeugin historischer Ereignisse habe ich erkannt, dass die aufgezeichnete Version nur äußerst selten mit dem übereinstimmte, was ich mit eigenen Augen gesehen hatte. In vielen Fällen konnte ich die Ereignisse später, in Zeitungsartikeln,
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