Das Magdalena-Evangelium: Roman
Aber Maureen hatte das Buch rasch wieder geschlossen. Sie hatte nie wirklich die Absicht gehabt, Kontakt zu potenziellen Verwandten aufzunehmen, nicht nach all dieser Zeit und sicherlich nicht jetzt. Es war mehr eine Übung im Erinnern gewesen.
Maureen berührte das Foto zum Abschied noch einmal, wischte sich mit der schmutzigen Hand die Tränen aus den Augen, und es war ihr egal, dass sie dabei den ganzen Dreck verteilte. Sie stand auf, und ohne zurückzublicken ging sie auf dem gleichen Weg wieder zurück, den sie gekommen war. Am Haupttor hielt sie noch einmal an. Auf dem eigentlichen Friedhof schimmerte eine weiße Kapelle mit einem polierten Messingkreuz in der hellen Sonne des Südens.
Maureen starrte die Kirche durch die Gitter hindurch an – eine Außenseiterin, die einen vorsichtigen Blick hineinwarf.
Sie schirmte ihre Augen vor dem grellen Licht ab, das sich auf dem Messingkreuz spiegelte, kehrte dann der Kirche den Rücken zu und ging weg.
Vatikanstadt, Rom
Juni 2005
Francesco Kardinal DeCaro erhob sich von seinem Schreibtisch und blickte aus dem Fenster auf die Piazza hinaus. Seine alten Augen waren nicht das Einzige, was eine Pause von den Stapeln vergilbten Papiers auf seinem Schreibtisch brauchte. Sein Geist und sein Gewissen brauchten Ruhe, um über die Information nachzudenken, die er an diesem Morgen bekommen hatte. Ein Erdbeben stand kurz bevor; so viel war klar. Wessen er sich nicht sicher war, war, wie viel Schaden diese bevorstehende Umwälzung anrichten würde – und wer seine Opfer sein würden.
Er öffnete die oberste Schublade seines Schreibtischs, um auf das Objekt darin zu sehen, das ihm in solchen Zeiten Kraft gab. Es war ein Porträt des seligen Papstes Johannes XXIII . unter der Überschrift Vaticanum Secundum – Zweites Vatikanisches Konzil. Unter dem Bild stand ein Zitat von diesem großen und visionären Papst, der so viel gewagt hatte, um seine geliebte Kirche in die Welt von heute zu führen. Zwar kannte DeCaro diese Worte auswendig, doch es stärkte ihn, sie zu lesen.
»Nicht das Evangelium hat sich verändert. Wir sind es, die begonnen haben, es besser zu verstehen. Der Augenblick ist gekommen, die Zeichen der Zeit zu erkennen, die Gelegenheit zu ergreifen und nach vorn zu sehen.«
Draußen stand der Sommer vor der Tür, und es versprach, ein schöner Tag in Rom zu werden. DeCaro beschloss, ein paar Stunden zu schwänzen und einen langen Spaziergang durch seine geliebte Ewige Stadt zu unternehmen.
Er musste einfach raus, musste nachdenken, und vor allem musste er um geistigen Beistand beten. Vielleicht würde ihm die Fürsprache des guten Papstes Johannes helfen, einen Weg durch die kommende Krise zu finden.
B artholomäus kam durch Philippus zu uns, einen anderen unseres Stammes und einen weiteren von uns, der falsch eingeschätzt wurde – und ich will hier gestehen, dass ich die Erste war, die ihn falsch beurteilt hat. Lange Zeit war er ein Gefolgsmann des Johannes gewesen, den man den Täufer nennt, und als solchen habe ich ihn kennen gelernt. Deshalb dauerte es eine Weile, bis ich gelernt hatte, Philippus zu vertrauen.
Als Mensch war Philippus ein Rätsel – praktisch und gebildet, und ich konnte mit ihm in der Sprache der Hellenen sprechen, die man mich ebenfalls gelehrt hat. Er stammte aus dem Adel und war in Betsaida geboren, doch er hatte sich schon vor langer Zeit entschlossen, ein Leben größter Einfachheit zu führen und dem Tand des Adels zu entsagen. Das hatte er zuerst von Johannes gelernt. Nach außen hin war Philippus schwierig und streitsüchtig, doch unter der Oberfläche leuchteten Licht und Güte.
Nichts vermochte Philippus dazu zu bewegen, einem anderen Lebewesen ein Leid zuzufügen. Tatsächlich war er sogar ausgesprochen streng bei der Auswahl dessen, was er zu sich nahm, und er weigerte sich, Nahrung zu verspeisen, für die ein Tier gelitten hatte. Während der Rest unseres Stammes sich von Fisch ernährte, wollte Philippus nichts davon wissen. Er konnte die Vorstellung einfach nicht ertragen, dass die zarten Münder von Haken zerrissen wurden, oder welche Qualen die Tiere empfinden mussten, wenn sie in den Netzen gefangen waren. Oft stritt er ob dieses Dilemmas mit Petrus und Andreas! Auch ich selbst habe häufig darüber nachgedacht. Vielleicht hatte er ja recht, und vielleicht war seine Hingabe an diesen Glauben einer der Gründe dafür, warum ich ihn so bewundert habe.
Ich hatte manchmal das Gefühl, dass Philippus den Tieren
Weitere Kostenlose Bücher