Das Magdalena-Evangelium: Roman
Anfang …«
Maureen versuchte, die wachsende Spannung zwischen den beiden Männern zu entschärfen, indem sie Sinclair zurück auf die Geschichte der Gegend lenkte.
»Was ist damals in Beziers geschehen?«
»Necate omnes« , wiederholte Sinclair. »Tötet sie alle! Und das ist genau, was die Kreuzfahrer unserer schönen Stadt Beziers angetan haben. Sie haben jede Seele dem Schwert überantwortet – vom ältesten Greis bis hin zum kleinsten Kind. Nicht eine Menschenseele haben die Schlächter verschont. An die hunderttausend Menschen, heißt es, wurden allein bei jener Belagerung ermordet. Die Legende sagt, dass unsere Hügel deshalb noch heute rot sind: aus Trauer um die dahingemetzelten Unschuldigen.«
Schweigend gingen sie für ein paar Augenblicke nebeneinander her, aus Respekt für die dahingegangenen Seelen dieses alten Landes. Die Massaker hatten vor fast achthundert Jahren stattgefunden, und doch war da dieses Gefühl, als seien überall noch die Geister der Unschuldigen, eine Präsenz in jeder Brise, die über die Ausläufer der Pyrenäen wehte. Das war Katharerland und würde es immer sein.
Sinclair setzte seinen Vortrag fort: »Natürlich sind eine Reihe von Katharern entkommen. Sie haben Zuflucht in Spanien, Deutschland und Italien gefunden. Sie haben ihre Geheimnisse und ihre Lehren bewahrt, doch niemand weiß, was aus ihrem größten Schatz geworden ist.«
»Was war das für ein Schatz?«, fragte Peter.
Sinclair schaute sich um. Seine Verbundenheit mit diesem Land war ihm deutlich anzusehen. Dieser Ort und seine Geschichte waren ihm in die Seele gebrannt. Egal, wie oft er diese Geschichten erzählte, er trug sie jedes Mal mit unvergleichlicher Leidenschaft vor.
»Es gibt viele Legenden darüber, woraus der Schatz der Katharer wirklich bestand. Manche sagen, es handele sich um den Heiligen Gral; andere wiederum behaupten, es sei das echte Grabestuch oder die Dornenkrone. Der wahre Schatz war jedoch eines der zwei heiligsten Bücher, die je geschrieben worden sind. Die Katharer waren die Wächter des ›Buchs der Liebe‹, des einzigen wahren Evangeliums.«
Er hielt kurz inne, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
»Das Buch der Liebe ist das einzig wahre Evangelium, weil es vollständig aus der Feder Jesu Christi selbst stammt.«
Peter hielt mitten im Schritt inne und starrte Sinclair an.
»Was ist los, Father Healy? Hat man Ihnen im Seminar nichts über das Buch der Liebe erzählt?«
Maureen blickte gleichfalls ungläubig drein. »Glauben Sie wirklich, dass so etwas je existiert hat?«
»Oh, es hat existiert. Maria Magdalena hat es aus dem Heiligen Land hierhergebracht, und ihre Nachfahren haben es mit großer Vorsicht weitergereicht. Es ist sehr wahrscheinlich, dass das Buch der Liebe das wahre Ziel hinter den Kreuzzügen gegen die Katharer war. Die Kirche wollte das Buch um jeden Preis in ihre Finger bekommen, aber nicht, um es zu beschützen, das kann ich Ihnen versichern.«
»Die Kirche würde nie etwas derart Unbezahlbarem und Heiligem Schaden zufügen«, erklärte Peter in spöttischem Tonfall.
»Nein? Was wäre denn, wenn sich die Echtheit eines solchen Dokuments beglaubigen ließe? Und was wäre, wenn solch ein beglaubigtes Dokument nicht nur die Grundsätze, sondernauch die Autorität der Kirche an sich infrage stellen würde? Geschrieben von Jesu Christi eigener Hand? Was dann, Father?«
»Das ist reine Spekulation.«
»Sie haben ein Recht auf Ihre Meinung wie ich auf meine. Meine gründet sich auf gut behütete Überlieferungen. Aber um mit meiner … Spekulation fortzufahren: Die Kirche hatte mit ihrem Plan in gewisser Hinsicht Erfolg. Nach der offenen Verfolgung der Katharer wurden die Reinen in den Untergrund gezwungen, und das Buch der Liebe ist für immer verschwunden. Heutzutage wissen nur wenige Menschen, dass es überhaupt je existierte. Es ist schon eine Leistung, etwas derart Mächtiges einfach so aus der Geschichte zu tilgen.«
Peter hatte Sinclairs Rede aufmerksam verfolgt. Nun dachte er erst einmal eine Minute lang nach, bevor er erwiderte: »Sie haben gesagt, der wahre Schatz sei eines der beiden heiligsten Bücher gewesen, die je geschrieben worden sind. Wenn ein Evangelium von Jesu eigener Hand das eine ist, was ist dann das andere?«
Berenger Sinclair blieb stehen und schloss die Augen. Der Sommerwind, ähnlich dem Mistral weiter südlich in der Provence, nahm zu und zerzauste ihm das Haar. Er atmete tief durch, öffnete die Augen wieder und schaute
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