Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
gefunden. Kein Künstler berührte sie so wie Sandro Botticelli. In der Eingangshalle des Châteaus hing sein Meisterwerk »Primavera«. Diese Allegorie des Frühlings mit ihrer wunderschönen Bildhaftigkeit der Wiedergeburt und dem Kreislauf des Lebens verfehlte nie ihre Wirkung auf Tammy. Im Zentrum des Bildes steht die Liebesgöttin Venus im roten Mantel und mit segnender Geste in der Mitte eines üppigen Gartens, in dem die drei Grazien neben der Gestalt des Merkur tanzen. Flora, die Frühlingsgöttin, verstreut Blumen, während die Nymphe Chloris von einer Windgottheit namens Zephyr verfolgt wird. Amor schwebt am oberen Bildrand und macht sich bereit, seinen Pfeil auf eine der arglosen Grazien abzuschießen.
Tammy begann zu lesen:
Die Kunsthistoriker streiten über die Bedeutung von Botticellis einzigartigem Meisterwerk, das in der Renaissance übrigens nicht »Primavera« genannt wurde. Wahrscheinlich erhielt es diesen Namen erstim achtzehnten Jahrhundert, obwohl auch das umstritten ist. Wahrscheinlich gibt es mehr Theorien über die Entstehung und Bedeutung dieses Gemäldes als über irgendein anderes Kunstwerk der Renaissance. »Primavera« ist ein Rätsel, das jeden Betrachter herausfordert, seine Bedeutung auf der Grundlage persönlicher Schlussfolgerungen zu erschließen. Da Botticelli uns keinerlei Aufzeichnungen hinterlassen hat, woher er seine Eingebungen bezog, wird »Primavera« eines der größten ungelösten Rätsel der Kunst bleiben.
Tammy wollte schon den Rest des Kapitels überspringen, als ihr ein Satz ins Auge fiel.
Der Renaissance-Humanist und Philosoph Giovanni Pico della Mirandola schrieb: »Wer bei Botticelli die Trennung der Venus von den drei Grazien wirklich verstehen will, vermag sein Wissen durch jenes unvergleichliche Gemälde zu verbessern, das wir als ›Le Temps Revient‹ kennen.«
Le Temps Revient. Erregt sprang Tammy auf und lief durchs Schloss auf der Suche nach Roland und Berenger. Dass Botticelli sein Meisterwerk nach Aussage eines Zeitgenossen »Die Zeit kehrt wieder« genannt hatte, konnte das wichtigste übersehene Detail der Kunstgeschichte der Renaissance sein.
Berenger Sinclair hielt das winzige Reliquiar in der Hand und ließ dessen Kettchen durch die Finger gleiten. Es faszinierte ihn seit dem Tag, als Destino es ihm geschenkt hatte. Zuerst war Berenger skeptisch gewesen, denn er wusste, wie viele Reliquien als angeblich echte Teile des Wahren Kreuzes gehandelt wurden.
Dem kleinen Medaillon hatte Destino eine Karte beigelegt: Dies gehörte einst dem Dichterfürsten, dem größten, der jemals gelebt. Du bist beauftragt, seinen Mantel zu tragen. Tue es mit Würde, und Gott wird dich belohnen, so wie die Prophezeiung es verheißt.
Berenger war ziemlich sicher, dass mit dem größten Dichterfürsten, der je gelebt hatte, Lorenzo de’ Medici gemeint sein musste, der »Pate« der Renaissance. Berenger schämte sich ein bisschen, weil er nicht viel über Lorenzo wusste; er war aber gewillt, das Fehlende von Destino zu lernen.
Den anderen Mann hingegen, den die französischen Häretiker als ihren Dichterfürsten verehrten, hatte Berenger gründlich studiert: den Erben der Anjou-Dynastie, besser bekannt als guter König René. Berenger, dessen Geburtstag auf den Dreikönigstag fiel, war mit dem Wissen aufgewachsen, dass seine Familie von ihm erwartete, diesen Titel zu erben, wie in einer alten Prophezeiung verheißen. Während Berengers Bruder Alexander in Schottland blieb, um das Ölgeschäft zu lernen, war Berenger bereits in jungen Jahren nach Frankreich geschickt worden, um im Haus seines Großvaters auf ein völlig anderes Leben vorbereitet zu werden. Der Großvater hatte ein Château im Languedoc gekauft und zur gleichen Zeit die »Gesellschaft der Blauen Äpfel« gegründet. Besitz und Gesellschaft waren den häretischen Lehren und Legenden in diesem Teil Frankreichs gewidmet, ganz besonders der Wahren Lehre Jesu, die Maria Magdalena nach der Kreuzigung des Herrn nach Gallien gebracht hatte.
Berengers Kenntnisse über die häretischen Traditionen Frankreichs waren hervorragend, doch in italienischer Geschichte war er ein Novize. Zwar hatte er gewusst, dass es auch in Italien Katharer gegeben hatte, doch erst als Maureen das unglaubliche Leben der Mathilde von Tuszien erforschte, hatte Berenger begriffen, wie viel geheimes Wissen aus dieser Region Italiens gekommen war und immer noch dort bewahrt wurde.
Und nun hatte Destino sie alle nach
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