Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
blieb davor stehen und neigte leicht den Kopf, während er Maria Magdalena betrachtete, die er zutiefst verehrte. Der versammelte Orden schaute Lorenzo schweigend zu. Er war der geweissagte Dichterfürst, und seine Deutung würde ausschlaggebend sein.
Donatello, der seiner Skulptur am nächsten stand, flüsterte dem Knaben zu: »Du hörst sie auch, nicht wahr?«
Lorenzo nickte, ohne Magdalena auch nur einen Moment aus den Augen zu lassen. Er ging um sie herum, betrachtete sie von allen Seiten, während er einer körperlosen Stimme zu lauschen schien, die außer ihm niemand im Saal vernehmen konnte. Endlich blieb er stehen und wandte sich der Versammlung zu. Eine Träne rann über seine Wange.
»Sage uns, was du siehst und hörst, Lorenzo.« Der Meister sprach mit sanfter, ermutigender Stimme.
Lorenzo räusperte sich, denn er wollte nicht vor dem versammelten Orden in Tränen ausbrechen. Er begann stockend, wurde aber zusehends sicherer.
»Sie ist … so dargestellt, wie sie es wollte. Denn so ist sie in Wahrheit. Nicht für euch und nicht für mich. Für uns ist sie die schönste Frau, die je gelebt hat … unsere Königin. Aber die Welt sieht sie anders. Die Kirche will es so. Sie gibt ihr schreckliche Namen und verbreitet Lügen darüber, wer sie war. Sie nimmt Magdalena das Leben fort, ihre Liebe und ihre Kinder. Sie macht sie zu einer Sünderin. Sie macht aus der Frau, die uns alle mit ihrem Mut und ihrer Liebe erretten könnte, eine Bettlerin.
Die Magdalena, die Donatello erschaffen hat, ist eine Bettlerin, weil sie von jenen, die weder Augen haben zu sehen noch Ohren zu hören, dazu gemacht wurde. Unsere Aufgabe ist es, dies zu ändern. Wir müssen ihr wieder den Thron verschaffen, der ihr als Himmelskönigin gebührt. Doch um dies zu vollbringen, müssen wir uns stets vor Augen halten, wie andere sie sehen – und nicht, wie wir selbst sie sehen.«
Lorenzo kämpfte mit aller Macht gegen die Tränen, so erfüllt war er von der Zuneigung zu seiner Herrin. Alle Augen hafteten auf ihm, als er seine letzte Verkündigung aussprach, die nur bestätigte, was die meisten Anwesenden ohnehin längst wussten: Lorenzo de’ Medici würde ein größerer Dichterfürst werden, als sie sich in ihren kühnsten Träumen vorgestellt hatten.
»Sie ist …« Lorenzo schluckte seine Tränen hinunter undschaute Donatello an. »Sie ist das schönste Kunstwerk, das ich je gesehen habe.«
Und wie ein Schlusspunkt fiel Donatello auf die Knie und weinte vor Erleichterung. Die Beseelung war gelungen. Sein Werk wurde verstanden. Und vor allem: Ihre Botschaft war übermittelt worden.
RRRRRRRRRRRRR
Florenz, Sitz der Bruderschaft der Magi
6. Januar 1459
»Wie sehe ich aus, Mutter?«
Lucrezia de’ Medici betrachtete ihren Sohn, der gerade seinen zehnten Geburtstag gefeiert hatte, und kämpfte mit mütterlichen Tränen der Freude und des Stolzes. Sie glättete den goldbesetzten Mantel, damit er gefällig über Lorenzos Hose fiel. Für Lucrezia würde ihr ältester Sohn stets vollkommen sein, auch wenn er die platte Nase der Tornabuoni und den berüchtigten Unterbiss der Medici geerbt hatte. Wenn Lorenzo auch nicht dem herrschenden Schönheitsideal entsprach, so strahlte er doch unleugbar Glanz aus. Außerdem war er höflich und verantwortungsbewusst.
Und es war dieser Hang zur Verantwortung, der Lorenzo nervös machte, während er das edle Gewand aus Seide und Damast anlegte, das er heute auf dem Zug der Magi tragen würde. Es war das Fest Epiphanias oder Dreikönigstag – der Tag, an dem die drei Weisen oder Magoi aus dem Morgenland gekommen waren, um das Kind in der Krippe anzubeten. Dieser Tag wurde in Florenz jedes Jahr von der Bruderschaft der Magi in Szene gesetzt. Sie gestalteten eine prächtige Prozession durch die Stadt und richteten anschließend eine Feier aus. Dieses Jahr sollte das Fest noch prachtvoller und üppiger ausfallen als sonst; Cosimo hatte es so befohlen und sich um die Ausgestaltung der Detailsgekümmert. Da die Medici Begründer und Führer der Bruderschaft waren, sollte Lorenzo heute die Rolle des Königs Kaspar übernehmen. Er nahm diese Aufgabe sehr ernst und war sich der Last bewusst, die auf seine schmalen Schultern drückte, denn die Teilnahme an der Prozession war zugleich seine offizielle Einführung in die Gesellschaft und die Botschaft an die Welt, dass er sich bereit machte, den Mantel des Dichterfürsten anzulegen.
In der Toskana waren die Bruderschaften zu einer festen Größe
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