Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
der groß genug war.
Dann ging Donatello ans Werk, in völliger Einsamkeit und unter strengster Geheimhaltung. Niemand, nicht einmal seine engsten Mitarbeiter, durfte den Raum betreten, in dem er seine Magdalena schnitzte und formte. Wenn Cosimo sich erkundigte, wie die Arbeit voranging, lächelte Donatello nur, und ein schwaches Leuchten stand in seinen Augen. »Ihr werdet schon sehen«, pflegte er jedes Mal zu sagen.
Dann kam der Tag der Enthüllung. Cosimo ließ die Skulptur unter Donatellos Aufsicht zu einer Versammlung des Ordens auf seinem Landsitz in Careggi schaffen. Auch der Meister würde anwesend sein, und das Werk sollte ihm und den anderen präsentiert werden. Donatello war vor Aufregung schwindelig; gleichzeitig fühlte er sich beklommen. Obwohl er Vertrauen in seine Begabung hatte, was mehr als gerechtfertigt war, hatte dieser Auftrag ihn vor die größte Herausforderung seines Künstlerlebens gestellt. Donatello hatte sein Herzblut in das Werk einfließen lassen und wie alle Künstler des Ordens eine Technik namens »Beseelung« benutzt, um seine künstlerische Absicht übergangslos in sein Material zu übertragen. War ein Kunstwerk »beseelt«, überstieg seine Wirkung das rein Visuelle, und die emotionale undgeistige Absicht des Künstlers übertrug sich auf den Betrachter. Es war eine Art Alchemie, die nur von Meistern wie Donatello beherrscht wurde.
Auch seine Magdalena war beseelt von der Hingabe und Erkenntnis ihres Schöpfers. Donatello wusste, dass ihr innerstes Wesen sich dem Betrachter offenbarte, wenn er über bloße Äußerlichkeiten hinausgelangte. Diese Magdalena war in der Tat anders als alles, was man bislang gesehen hatte.
Er hatte sie nicht unbedingt so darstellen wollen, aber sie hatte darauf bestanden. Donatello hatte es spüren können, kaum dass er das Holz berührte: Fast wie ein Schrei waren ihre Worte zu ihm durchgedrungen – eine Beschreibung ihres Aussehens. Wie jeder Künstler im Orden hatte Donatello den Schwur geleistet, das Vermächtnis der Madonna Magdalena zu hüten. Und deshalb tat er, was sie ihn hieß.
Die Versammlung begann damit, dass Fra Francesco, der Meister, den Segen sprach, gefolgt vom Gebet des Ordens vom Heiligen Grab:
»Wir preisen Gott und beten für eine Zeit,
in der alle Menschen unsere Lehre
in Frieden willkommen heißen
und es keine Märtyrer mehr gibt.«
Anschließend hielt Cosimo eine kurze Ansprache, in der er das neue Kunstwerk Fra Francesco widmete und Donatello für seinen Einsatz und sein Genie rühmte.
Doch als die Skulptur enthüllt wurde, breitete sich im großen Speisesaal von Careggi Schweigen aus, ganz so, wie Donatello es befürchtet hatte. Falls die Mitglieder des Ordens erwartet hatten, ihre Königin der Barmherzigkeit in Pracht und Schönheit dargestellt zu sehen, mussten sie furchtbar enttäuscht und mehr als nur erschrocken sein, denn Donatello hatte eine zutiefst elende Maria Magdalena geschaffen.
Ihr Körper war ausgezehrt und nackt unter ihren langen Haaren und einem zottigen Fell, das ihr bis über die Knie reichte. Es war unfassbar, wie der Künstler es geschafft hatte, in Holz und ohne Farbe darzustellen, dass die Magdalena ungewaschen war und dass ihr das verfilzte Haar am Kopf klebte. Ihre hohlen Augen blickten eindringlich in dem hageren Gesicht mit dem fast zahnlosen Mund.
»Sie sieht wie eine Bettlerin aus!«, flüsterte eine erschrockene Frauenstimme.
»Das ist eine Lästerung des Ordens!«, schloss sich eine Männerstimme an, schon ein wenig lauter.
Da erhob sich der Meister des Ordens vom Heiligen Grab und trat auf die Skulptur zu. Sanft fuhr er mit den Fingern über das reich geschnitzte Haar. Nach einem langen Augenblick der Betrachtung wandte er sich Donatello zu.
»Sie ist vollkommen. Ich danke dir, mein Sohn, für das himmlische Geschenk, das du uns gemacht hast.«
Als er die liebevollen Worte des Meisters vernahm, brach Donatello in Tränen aus. Der Druck eines ganzen Jahres, die Notwendigkeit, die Skulptur vollkommen zu machen, hatte schwer auf seiner Seele gelastet. Er hatte ein vernichtendes Urteil befürchtet, und aus den ersten geflüsterten Bemerkungen hatte er geschlossen, dass er verdammt war.
Doch nun trat das einzige Kind der Runde hervor und trug vollends zu seiner Errettung bei. Der neunjährige Lorenzo de’ Medici nutzte seine Intelligenz und Sensibilität, um jenen, die keine Augen hatten zu sehen, das Kunstwerk zu erklären. Wie hypnotisiert ging er auf die Skulptur zu,
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