Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
Begabung des Knaben und hörte mit Erstaunen, dass er bereits mit dem Lateinischen vertraut und ein Naturtalent im Griechischen sei. Es war, als habe Lorenzo einen Zwillingsbruder, der ein paar Jahre später in einer anderen Gegend der Toskana geboren worden war.
Nach der grausamen Hinrichtung seines Vaters erhielt Angiolo eine Erziehung, die heimlich von Cosimo bezahlt und von Ficino überwacht wurde. Bevor er krank wurde, hatte Cosimo beabsichtigt, den kleinen Angiolo nach Florenz zu holen und in seine Familie aufzunehmen. Doch das Schicksal wollte es anders, und der junge Genius begann auf dem Lande dahinzuwelken. Als Angiolo einen Verzweiflungsbrief an Ficino schrieb, leitete der Lehrer den Brief des Knaben an Lorenzo weiter. Ficinoschwieg eisern und wartete ab, ob Lorenzo sich tatsächlich als würdiger Nachfolger Cosimos erwies. Konnte er das Talent eines Himmlischen erkennen? War er tatsächlich seinem Großvater ebenbürtig – oder gar überlegen –, wenn es darum ging, Begabung zu erkennen und zu fördern?
Ficino war hocherfreut, dass Lorenzo bereits im Alter von fünfzehn Jahren in der Lage war, die einzigartige Rolle zu spielen, die nur er allein erfüllen konnte. Tatsächlich wuchs er mehr und mehr in beide Aspekte des Dichterfürsten hinein.
Lorenzo und Jacopo starrten Ficino verwirrt an, nachdem er ihnen eröffnet hatte, dass er Angiolo schon seit Tagen erwarte. Ficino lächelte nur und scheuchte alle ins Haus. Als Nächstes traf Sandro Botticelli ein, nickte Jacopo kurz zu und machte sich mit Angiolo bekannt. Sandro wusste, dass ihn jede Minute, die er bei Ficino verbrachte, zu einem besseren Maler machte, denn er lernte immer mehr Elemente des Geschichtenerzählens, die er in seine Kunst einbinden konnte. Deshalb nahm er an Ficinos Stunden teil, wann immer seine Zeit es zuließ. Zwar mochte er den arroganten Bracciolini-Sprössling nicht besonders, aber heute lag eine erwartungsvolle Spannung in der Luft, die er nicht missen wollte.
»Nun kommt herein, meine Kinder. Die Tabula Smaragdina erwartet uns.«
Ficino führte seine Schüler in das größere Vorzimmer, das ihm als Klassenraum diente. Er wiederholte den Gedächtnistest, den Jacopo und Lorenzo im Garten geprobt hatten. Zwar bestanden beide die Prüfung, aber keiner so schnell und flüssig wie Angiolo Ambrogini, der sowohl in der Gedächtnisleistung als auch im Verständnis des Kontextes brillierte.
»›Was oben ist, das ist gleich dem, was unten ist‹«, zitierte Ficino. »Das ist eine andere Formulierung für einen Satz, den auch wir oft sagen. Welcher ist es?«
Lorenzo antwortete unverzüglich. »Wie im Himmel, so auf Erden.«
»Genau«, lobte Ficino. »Und was sagt uns das über den Zusammenhang zwischen den Lehren unseres Herrn Jesus und den Lehren der Antike?«
»Dass alles zusammenhängt und es keine Trennung gibt«, antwortete Jacopo. Es war Ficinos Lieblingstheorie; alle seine Schüler kannten sie.
»Und weiter?« Auffordernd schaute Ficino Angiolo an. Er brannte darauf zu sehen, wohin dieser Knabe die anderen in der Diskussion führen würde. Lorenzo und Jacopo waren zwar intelligent, doch ihre Streitgespräche waren oft mehr durch ihre Rivalität als durch den Inhalt des Lehrstoffes bestimmt. Sandro war ein ruhiger Schüler und sagte während der Stunden kaum ein Wort. Deshalb mochte ein weiterer scharfer Verstand genau das sein, was Lorenzo benötigte, um die nächsthöhere Stufe des Lernens zu erreichen.
Angiolo schaute seine Klassenkameraden an und zögerte. Er war der Neue und außerdem der Jüngste. Zudem stand er sozial weit unter ihnen und wusste nicht, was seiner Stellung zukam. Lorenzo spürte dies und ermunterte den Kleinen.
»Na los. Sag uns, was du denkst, Angiolo.«
»Ich glaube, es soll bedeuten, dass es keine Rolle spielt.« Er sprach mit leiser, aber fester Stimme, und die anderen, Lehrer wie Mitschüler, schwiegen, betroffen von seiner Beredsamkeit.
»Alle Weisheit kommt von Gott und ist Wahrheit. Es spielt keine Rolle, ob die Wahrheit von Hermes oder von Jesus stammt oder wer sie zuerst sagte oder in welcher Sprache sie gesagt wurde. Deshalb beginnt die Smaragdtafel mit den Worten: ›Wahrhaftig, ohne Lüge, gewiss und wahrlich.‹ Denn dies ist das Wesen des göttlichen Gesetzes.«
»Und bedeutet es, dass Jesus die Smaragdtafel studiert hat?«, fragte Ficino. »Dass er die griechischen Lehren kannte? Und wenn es so war, ist das Ketzerei?«
»Ich bin kein Priester und kann Euch nicht sagen, was
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