Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
unbekannten Poeten, die er gerade erst entdeckt hatte.
Am Vortag war ein Bote nach Florenz gekommen und hatte einen Brief aus dem Städtchen Montepulciano abgegeben. In dem Schreiben wurden Lorenzo und das Haus Medici von einem Mann namens Angiolo Ambrogini gepriesen, der behauptete,sein Vater sei ein paar Jahre zuvor in Diensten Cosimos gestorben. In bemerkenswert elegantem Stil fuhr Ambrogini fort, auch er wolle gern nach Florenz kommen und der Familie dienen wie sein Vater. Lorenzo erhielt viele Briefe dieser Art, in denen unsterbliche Loyalität für die Medici beteuert wurde, doch dieses Schreiben fesselte ihn auf ungewöhnliche Weise. Ihm lag nämlich eine Sammlung von Gedichten bei, die alles übertrafen, was Lorenzo jemals gelesen hatte. Der Dichter, besagter Angiolo, trug seinen Namen zu Recht: Er war unverkennbar einer der Himmlischen, ein menschliches Wesen mit überirdischen Gaben. Er dichtete sowohl auf Lateinisch als auch in der toskanischen Volkssprache, wie es auch Dante und Boccaccio getan hatten – und Lorenzo selbst. Ambrogini machte zudem Anleihen im Griechischen, sowohl in sprachlicher als auch in bildlicher Hinsicht.
Nie zuvor hatte ein Brief Lorenzo so beeindruckt. Seine Familie und der Orden hatten bereits viele Himmlische unter Vertrag, die Wahrheit und Schönheit mit den Mitteln der Malerei bewahren konnten, doch ein Literat war noch nicht dabei. Kein neuer Dante war am Horizont erschienen – bis jetzt.
Lorenzo wollte unbedingt herausfinden, wer dieser Himmlische aus Montepulciano war, wo er eine so ausgezeichnete Bildung genossen hatte und wie man diesen Mann in den Kreis der Eingeweihten einfügen konnte. Als er aus dem Sattel stieg und vorsichtig das kostbare Schreiben aus dem Ranzen holte, hörte er die spöttische Stimme seines Freundes aus Kindertagen hinter sich.
»Hast du auch brav gelernt?«
Jacopo Bracciolini hatte an Lorenzos Unterricht bei Ficino teilgenommen, wann immer sein Stundenplan es erlaubte. Da jedoch sein Vater Cosimo auf dem Sterbebett versprochen hatte, die Freundschaft zwischen seinem Sohn und Lorenzo zu fördern, waren sie nun häufiger zusammen. Dabei waren sie nach und nach zu Rivalen geworden, weil beide von Natur aus hochbegabtwaren, sich gern im Wettstreit versuchten und zudem in Familien aufgewachsen waren, deren Männer für ihren gelehrten Geist gerühmt wurden.
Lorenzo schlug sich an die Stirn. Er hatte vergessen, dass Ficino ihnen für heute die Aufgabe erteilt hatte, aus der Smaragdtafel des Hermes Trismegistos zu rezitieren. Lorenzo liebte zwar die hermetischen Lehren, doch einen Text um seiner selbst willen auswendig zu lernen, hasste er. Außerdem war er durch die anmutigen Gedichte, die er in der vergangenen Nacht gelesen hatte, so abgelenkt gewesen, dass er die heutige Prüfung vollkommen vergessen hatte.
Die Smaragdtafel war eine legendäre Schrift aus der Antike, von der man glaubte, sie enthielte die verschlüsselten Geheimnisse des Universums. Der Gott Hermes selbst, hieß es, habe seine Lehren in eine große Platte aus grünem Stein gemeißelt. Einer antiken Überlieferung zufolge wurde die große Pyramide von Giseh eigens zu dem Zweck erbaut, die Lehren des Hermes zu beherbergen, den die Ägypter unter einem anderen Namen kannten: Toth. Dieses sagenhafte Artefakt von unermesslicher Macht war der Menschheit schon vor langer Zeit verloren gegangen. Obwohl Cosimo Boten um die ganze Welt geschickt hatte, konnten sie die Tafel nicht finden. Cosimo hatte ein Vermögen für die Suche nach dem verlorenen Schatz des Hermes ausgegeben.
Am nächsten war der Medici-Patriarch der legendären grünen Tafel gekommen, als in der Nähe von Konstantinopel eine Handschrift aus dem zehnten Jahrhundert entdeckt wurde, die lateinische Übersetzung des Ursprungstextes. In welcher Sprache Hermes seine Worte in die Smaragdtafel gemeißelt hatte, war eines der großen Rätsel der Geschichte. Vermutlich war es eine sehr alte Symbolsprache gewesen, die für immer verloren war. Dennoch waren Teile des Textes als mündliche Überlieferung über die Jahrhunderte weitergereicht worden.
Es war die lateinische Übersetzung aus dem zehnten Jahrhundert,aus der Lorenzo und Jacopo heute aufsagen sollten. Es war ein wunderschöner Nachmittag, und die Sonne schien auf den gepflasterten Weg, der zu Ficinos Häuschen führte. Die beiden Freunde setzten sich auf eine Holzbank unter einem Bogen aus weißen Rosen, der von eingetopften Orangenbäumchen eingerahmt wurde: Dieses
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