Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
Symbol der Medici stand in großer Zahl in sämtlichen Gärten ihrer Häuser. Zurzeit standen die Bäumchen in Blüte, und der süße Duft von Orangenblüten schwebte in der Luft wie ein magischer Hauch.
Lorenzo lachte. »Nein, ich habe nicht gelernt. Aber ich glaube, ich kann den Text gut genug, um Ficino nicht zu verärgern. Wie steht es bei dir?«
Jacopo begann den Text auf Latein aufzusagen, um zu sehen, ob Lorenzo tatsächlich vorbereitet war.
»Tabula Smaragdina. Verum, sine mendacio, certum et verissimum …«
Sogleich übersetzte Lorenzo: »Die Smaragdtafel. Wahrhaftig, ohne Lüge, gewiss und wahrlich …« Er warf Jacopo die nächste Zeile hin. »Quod est inferius est sicut quod est superius, et quod est superius est sicut quod est inferius, ad perpetranda miracula rei unius.«
Selbstgefällig grinsend übersetzte Jacopo: »Was unten ist, das ist gleich dem, was oben ist, und was oben ist, das ist gleich dem, was unten ist, auf dass ein Ding hervorgebracht wird, das voller Wunder ist.«
Und ohne eine Atempause einzulegen, feuerte er die nächsten Zeilen auf Lorenzo ab. »Pater ejus est Sol. Mater ejus est Luna. Portavit illud ventus in ventre suo.«
»Sein Vater ist die Sonne. Seine Mutter ist der Mond. Der Wind trägt es in seinem Leib.«
Lorenzo hielt inne, weil er plötzlich merkte, dass er die nächste Zeile nicht wusste. Er überlegte angestrengt, wie sie lautete, um den Wettkampf zu gewinnen. Tief in Gedanken nagte er auf der Unterlippe, als sich unversehens eine dritte Stimme zu Wort meldete. Es war eine unbekannte Stimme, die eines Knaben. Lorenzound Jacopo fuhren erschrocken zusammen, als sie hinter ihnen ertönte.
»Nutrius ejus Terra est« , vernahmen sie. »Die Erde ist seine Amme.«
Lorenzo schnappte nach Luft. Die Stimme und das fehlerlose Latein kamen aus dem Mund des staubigen Stalljungen, den er zuvor auf der Straße gesehen hatte. Der Knabe senkte schüchtern den Blick, brachte aber noch hervor: »Ich liebe diese Zeile. Sie ist sehr schön, und sie erinnert uns daran, dass die Erde uns nährt mit ihrer Schönheit.«
Lorenzo streckte dem Knaben die Hand hin und stellte sich vor. Der Kleine drückte sie sanft. Seine großen leuchtenden Augen, die für einen so jungen Menschen viel gesehen hatten, füllten sich mit Tränen. »Ich weiß, wer Ihr seid.«
Lorenzo ließ die Hand des Knaben nicht los. Mehr noch, er fasste ihn an der Schulter und sagte: »Dann bin ich im Nachteil, denn ich weiß nicht, wer der Bruder ist, der mir gegenübersteht und für einen so jungen Menschen eine beachtliche Kenntnis der Dichtkunst besitzt.«
Der Knabe war nun in Tränen aufgelöst und fiel auf die Knie. »Ich bin gekommen, um Euch zu dienen, Lorenzo. Und um bei Maestro Ficino zu lernen, falls er mich als Schüler annimmt.«
Jacopo Bracciolini verdrehte die Augen angesichts dieses Schmeichlers. »Steh schon auf, Junge. Er ist weder der König noch der Papst, sondern bloß ein Medici.« Er ergriff einen Arm des Knaben, Lorenzo den anderen, und zusammen zogen sie den Kleinen auf die Beine.
»Wie ist dein Name, Bruder? Und woher stammst du?«, fragte Lorenzo sanft.
Der kleine Fremdling schob das dichte Haar aus dem Gesicht und rieb sich die Augen, bevor er antwortete: »Angiolo. Mein Name ist Angiolo Ambrogini, und ich stamme aus Montepulciano.«
»Aha, wie ich sehe, habt ihr euch bereits kennengelernt. Wunderbar. Dann können wir ja beginnen. Das ist auch gut so, denn der mächtige Hermes wartet nicht gerne.«
Hinter der Tür verborgen hatte Marsilio Ficino die Begrüßung zwischen dem Neuankömmling Angiolo Ambrogini und seinen älteren Zöglingen verfolgt. Er freute sich, dass Lorenzo den Kleinen sofort ins Herz geschlossen hatte, und hoffte nur, Jacopo werde es ebenfalls tun, denn gerade er konnte die Anregung durch einen klugen Geist gebrauchen. Und es gab wenige, die von sich behaupten konnten, so klug zu sein wie dieser Knabe. Ficino hatte den jungen Angiolo auf Anraten Cosimos seit Jahren beobachtet. Angiolos Vater war in einer blutigen Fehde zu Tode gekommen, brutal erstochen vor den Augen seines kleinen Sohnes. Die Ambrogini waren seit zwei Generationen treue Diener der Medici. In jener Zeit, als in Florenz die Blutfehden tobten und Cosimo ins Exil gehen musste, hatte der Medici-Patriarch bei der Familie Ambrogini in Montepulciano gelebt. Dort hatte er Gelegenheit gehabt, den schüchternen und doch erkennbar genialen Knaben kennenzulernen. Cosimo sprach mit Angiolos Vater über die
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