Das Magdalena-Vermächtnis: Roman
Ketzerei ist«, antwortete Angiolo schlicht. »Aber ich sage es nocheinmal: Es spielt keine Rolle, ob Jesus seine Weisheit von einem hellenischen Philosophen oder von Gott selbst erhielt. Denn die reine und vollkommene Wahrheit des Lebens ist, dass wir hier sind, um den Himmel auf Erden zu erschaffen und die Vollkommenheit dessen, was dort oben ist, in die Welt zu bringen. Und indem wir das tun, werden wir als menschliche Wesen zu etwas Bedeutenderem und Schönerem.«
Lorenzo saß inzwischen vorgebeugt da und sog jedes Wort Angiolos in sich auf. Schließlich sagte er: »Um ein vollkommener Anthropos zu werden.« Er erklärte dem Kleinen das Fremdwort. »Ein ganzer Mensch, der vollkommenste Zustand, den wir erreichen können. Ein sich selbst erkennender Mensch weiß, wer er ist und weshalb er auf Erden ist: um sein Versprechen, das er Gott und sich selbst gegeben hat, bewusst und tatkräftig zu erfüllen, und um die Mitglieder seiner geistigen Familie zu finden und ihnen zu helfen, das Gleiche zu tun.«
» Anthropos ist ein griechisches Wort, das ich kenne«, sagte Angiolo. »Aber ich kenne den Zusammenhang nicht, in dem Ihr es gebraucht.«
»Dann werden wir es dich lehren müssen«, sagte Lorenzo. »So wie auch du, scheint’s, uns deine Weisheit lehren musst.«
Sandro hatte während der Stunde geschwiegen, doch Lorenzo wusste, dass er die ganze Zeit gezeichnet hatte. Sandro drehte sein Blatt um und zeigte eine Bleistiftskizze von Angiolo. Er hatte den Knaben als Hermes gemalt, wie er zum Himmel emporschaute. In der einen Hand hielt er einen Stab, mit dem er die Wolken durcheinanderzuwirbeln schien.
Angiolo errötete ob der Schönheit der Skizze. »Ihr ehrt mich, indem Ihr mich mit Hermes vergleicht.«
»Ich zeichne, was ich sehe, Bruder. Und was ich sehe, ist dein Intellekt, der uns hienieden über die Wahrheit des Oben belehrt. Ich sehe aber auch voraus, dass du die Dinge im schlappen Florenz ein wenig auf Trab bringen wirst! Und das ist zufällig ein sehr erfrischendes Element.«
Jacopo Bracciolini schien wenig erfreut über die Katzbuckelei vor dem Neuankömmling, hielt aber den Mund. Die Medici waren berühmt dafür, herrenlose Poeten und Philosophen aufzulesen.
»Willkommen in unserer geistigen Familie, Bruder«, sagte Lorenzo und nahm Angiolos Hände. Der Knabe war fest entschlossen, nicht wieder zu weinen. Doch zum ersten Mal seit dem Tod seines Vaters empfand Angiolo Ambrogini wieder so etwas wie Freude.
Marsilio Ficino spürte während der ganzen Unterrichtsstunde ein aufgeregtes Flattern in der Magengrube. Er war kein Prophet, aber er hatte genug von der Welt gesehen, um zu wissen, dass diese drei leuchtenden Wesen – der Fürst, der Maler und der Dichter – tatsächlich imstande waren, ein neues Zeitalter einzuläuten. Florenz würde wiedergeboren werden. Ganz Italien würde folgen – und vielleicht auch die übrige Welt.
Ficino bemerkte jedoch auch, dass Jacopo Bracciolini von dieser erstaunlichen Dreieinigkeit ausgeschlossen war, und zwar aus freien Stücken. Auch wenn Jacopo der Sohn eines außergewöhnlichen Vaters war, hatte er nichts mit der besonderen Familie zu tun, die hier im Entstehen war. Er war ein junger Mann von reichen Geistesgaben, doch Ficino hatte ihn in den letzten Jahren aufmerksam beobachtet und festgestellt, dass Jacopo zwar fleißig seinen regen Verstand benutzte, doch sein Herz schien von allen Lehren unberührt zu bleiben.
RRRRRRRRRRRRR
Florenz
1467
Mit einem Kloß im Hals eilte Colombina in die Eingangshalle. Ihre Schwester Costanza hatte atemlos verkündet, der geheimnisvolle Fra Francesco sei gekommen. Was tat er hier in ihremElternhaus? Es konnte doch nicht um offizielle Belange des Ordens gehen? War Lorenzo etwas geschehen?
»Maestro! Euer Besuch ist uns eine Ehre. Was führt Euch hierher?«
»Ich war gerade in der Nähe.«
Seine entspannte Haltung verriet Colombina, dass nichts geschehen war, und sie schenkte dem Alten ein warmes Lächeln. »Ihr seid viel zu bedeutend, um ein guter Lügner zu sein.«
Fra Francesco erwiderte ihr Lächeln und zuckte die Achseln. »Und du bist zu jung, um so weise zu sein. Aber da du weise bist , sage ich dir die Wahrheit. Wusstest du, dass die Sonne, wenn du genau um die Mittagszeit auf dem Ponte Santa Trinità stehst, direkt auf die Mitte des Ponte Vecchio scheint? Und was für ein Zufall! Es ist fast Mittag!«
Colombina zwinkerte ihm zu. »Eine wahre Florentinerin muss so etwas wissen. Ich hole nur meinen
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