Das magische Land 1 - Der Orden der Rose
mussten sie für sich selbst sorgen. Der Regen war nur noch ein leichtes Nieseln. Die Luft war frisch und feucht und von einer Kälte, die bis auf die Knochen ging.
Schwelende Wut hielt sie warm. Sie betrachtete die Truppe von Soldaten, die den Weg nach draußen versperrten. Sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, in ihren ausdruckslosen Augen nach Anzeichen von Klugheit Ausschau zu halten, tat es aber dennoch. »Väter Gamelin«, sagte sie, ohne sich darum zu scheren, wo er sich befand oder wie er sie hören könnte. »Es ist Zeit zum Aufbruch.« Er trat aus dem Schatten einer Tür, als hätte er sich dort materialisiert. Es kümmerte sie nicht, ob es so war. Sie lenkte ihr Pferd auf die Reihe von Soldaten zu.
Im allerletzten Moment teilte sie sich. Das Gefühl von Freiheit war verschwindend kurz. Jenseits der Klostermauern gab es mehr von ihnen, die stumm warteten und nichts wussten vom kalten Regen oder den Spielen der Herrschenden.
Sie versuchte, sich so viele Gesichter wie möglich einzuprägen: Das waren Söhne von Müttern, Brüder, Cousins und Väter. Irgendwo in Lys warteten Verwandte und Freunde auf sie. Sie hoffte, dass niemand wusste, was aus ihnen geworden war. Diese Art von Trauer wünschte sie niemandem. Ihr Zorn hatte sich tief eingegraben. Sie hegte ihn sorgfältig. Er musste ihr Kraft geben, so lange wie es dauern würde, das Ganze bis zum Ende durchzustehen — und das konnten Jahre sein.
Sie durfte nicht zu viel darüber nachdenken, sonst hätte sie den Mut verloren. Sie legte den Kopf in den Nacken und ließ ihr Gesicht vom Regen küssen. Wäre es nicht so dunstig und neblig gewesen, hätte sie einen ersten Blick auf Fontevrai erhaschen können. Bei der derzeitigen Wetterlage würde sie es mit etwas Glück erst dann sehen, wenn sie direkt vor den Stadtmauern stand. Es war da. Sie spürte es in ihrem Herzen. Sie nahm allen Mut zusammen und ritt darauf zu.
Kapitel 38
Wie der Rest des Herzogtums, abgesehen von den Häusern des Rosenordens, sah Fontevrai noch genauso aus wie an dem Tag, als Averil es verlassen hatte. Selbst das Lager außerhalb der Stadtmauern mit seinen geordneten Zeltreihen unter dem Banner des Königs wirkte täuschend normal. Königliche Eskorten lagerten hier aus Hochachtung vor dem Herrn der Domäne. Es waren mehr als sonst, aber längst nicht so viele, wie der König mitgebracht hatte: Das ging auf Gereints Konto, aber das wussten nur Gereint und Averil.
Die Wachen am Stadttor trugen das Dunkelblau und Silber des Herzogs. Durch den beständigen Nieselregen war die Livree feucht geworden, und die Farben wirkten eher schwarz und grau. Sie waren nicht wie die Soldaten, die Averil in stummen Reihen eingekreist hatten; sie hatten noch ihre vollständigen, sterblichen Persönlichkeiten. Sie wirkten gehetzt, ihre bleiche Gesichtsfarbe kündete von einer langen Schlacht, die kaum Aussicht auf Sieg bot.
Dennoch kämpften sie weiter. Das machte ihr Hoffnung.
Das Banner des Herzogs flatterte vom höchsten Turm der Zitadelle. Averil atmete hörbar aus. Ohne es zu wissen, hatte sie die Luft angehalten. Ihr Vater war am Leben und im Palast.
Unter dem herzoglichen Banner flatterte das des Königs: blauer Himmel und silberne Lilien — noch keine Schlange. Die Anordnung der Banner bedeutete, dass seine Majestät Gast des Herzogs war.
Averil war klug genug, auf nichts zu vertrauen, was mit dem König zu tun hatte. Sie achtete darauf, dass Gereint dicht neben ihr und auf der Hut war. Des Weiteren achtete sie darauf, dass sie nicht als Gefangene, sondern als adlige Herrin in Begleitung ihrer Eskorte durch das Stadttor ritt. Dies war ein feiner, aber entscheidender Unterschied.
Als sie das Tor der Zitadelle passiert hatten, wandte Averil sich an Vater Gamelin. »Ich muss meinen Väter aufsuchen. Dann werde ich mich ausruhen. Sagt seiner Majestät, dass ich ihn morgen Früh empfangen werde.« »Madame«, sagte Gamelin, »die Thronerbin des Herzogs ist kürzlich verstorben, und er hatte keine weiteren Erben. Nachdem Ihr Euch mit Eurem Possenspiel vergnügt habt, seid Ihr uns nun eine Erklärung schuldig. Ich fürchte, wir können Euch nicht nach Eurem freien Willen handeln lassen, bis wir sicher sind, dass Ihr diejenige seid, für die Ihr Euch ausgebt.« Averil warf ihm einen hochmütigen Blick zu. Er war keiner, der bleich wurde oder herumfuchtelte, aber seine Haltung wirkte ein wenig angespannter. Schließlich sagte sie: »Ihr dürft mich zum Herzog führen. Wenn er tatsächlich am
Weitere Kostenlose Bücher