Das magische Land 1 - Der Orden der Rose
Steinkoloss des Herzogspalasts. Durch das Glas seiner Fenster und die Kristalle seiner Schutzzauber brachte sie ihren Vater ins Blickfeld.
Er war stark gealtert, seit er sich sechs Jahre zuvor hatte portraitieren lassen. Sein dunkles Haar war weiß geworden; das fein geschnittene Gesicht war hager, und seine Augen wirkten erschöpft. Er saß in einer Gartenlaube, zu seinen Füßen zwei Wolfshunde, im Schoß ein Buch. Die Hand, die die Seite umblätterte, war mager und zitterte.
Bei genauerem Hinsehen bemerkte Averil jedoch die Kraft in ihm. Er war ein ausgezeichneter Magier, Gelehrter und Seher. In seiner Jugend hatte er die Ausbildung zum Ritter durchlaufen. Er hatte den Orden verlassen, ohne den Eid abzulegen, so wie seine Tochter die Priesterinnen verlassen hatte, aber seine Studien hatte er weiter betrieben.
Die Schutzzauber, die wie eine schimmernde Matrix über dem Herzogtum lagen, waren sein Werk. Sie wurden durch andere Mächte unterstützt, ein Netz von Magiern in jeder Stadt und in jedem Dorf, die nach seinem Befehl handelten.
Averil verbeugte sich vor seinem großen Können. Wenn Quitaine gefährdet war, unter Belagerung zu geraten, wurde es von seinem Herzog gut geschützt. Aber er war alt. Er brauchte seine Thronerbin, damit sie nach seinem Tod bereit war, das fortzuführen, was er begonnen hatte.
Dazu gehörte unabdingbar, dass sie einen Ehemann finden und an sich binden musste. Sie war zwar in der Lage, Magie zu beherrschen und auszuüben, aber eine Frau führte keine Armeen. Und sie würde Armeen brauchen, wenn sie sich gegen den König auflehnen musste.
Es war ein kalter Gedanke, aber Pflicht und Regierung duldeten keine Wärme. Averil kannte ihre Pflicht. Sie war dazu erzogen worden, sie auszuüben. Behutsam löste sie sich von der Vision, verschloss jedes einzelne schimmernde Glasstückchen. Sie spürte, dass Bernardin sie dabei beobachtete, darauf bedacht, sich nicht einzumischen. Dies war eine Art Test, und sie wollte ihn bestehen.
Sie öffnete ihre Augen und blickte in die äußere Welt. Sie schien trüb und fade im Vergleich zum reinen Licht der Vision.
Bernardin kniete mit gesenktem Kopf zu ihren Füßen. Es hatte ihn nicht wenig Kraft gekostet, die Vision für sie heraufzubeschwören.
Dies war eine Schuld, die sie begleichen konnte. Sie legte eine Hand auf seinen Kopf. Strahlendes Licht ließ beide miteinander verschmelzen; sie ließ es in ihn hineinströmen.
Erschrocken schaute er auf. Sie konnte seinen Schrecken jedoch nicht verstehen. Jede Akolythin der Insel konnte dies tun, wenn auch vielleicht nicht ganz so mühelos wie sie. Sie hatte ein besonderes Talent dafür.
Sie zog die Hand zurück, bevor sie zu viel von sich selbst verströmte. Er war auf alle Fälle wiederhergestellt und erhob sich langsam, nur um sich erneut vor ihr zu verbeugen. »Eure Heiligkeit«, sagte er. Er meinte es in vielerlei Hinsicht. Sie öffnete den Mund, um ihn darauf hinzuweisen, dass sie weder eine Priesterin der Insel war noch jemals eine sein würde, sprach es jedoch nicht aus. Er hatte ihr einen Titel nach seiner Wahl gegeben. Es war eine Ehre und ein großes Lob.
Kapitel 5
Der König von Lys schritt langsam durch seinen paradiesischen Dom. Seine Wände wurden zusammengehalten von einer Matrix aus hoher Magie. Die Sonne schien zu allen Jahreszeiten durch sie hindurch, selbst im tiefsten Winter, und nährte die feuchtschwüle Wärme seines ganz persönlichen Garten Eden.
Der Geruch nach Erde und Feuchtigkeit und fruchtbarer Fäulnis erfüllte seine Nase. Seltsame Blattpflanzen und noch seltsamere Blumen wucherten um ihn herum. Bunte exotische Vögel flatterten von Ast zu Ast; flinke Insekten flogen, schwärmten und krabbelten umher. In gläsernen Käfigen unterhalb des blühenden Baldachins wanden sich geschmeidige Wesen, mit glänzenden Schuppen und hervorschnellenden Zungen.
Nur wenige der Käfige waren verschlossen. Die Bewohner der meisten konnten kommen und gehen, wie es ihnen beliebte, glitten heraus, um sich zu sonnen, zu jagen oder zu fressen. In diesem Paradies waren Schlangen willkommen —, und menschliche Wesen mussten sich mit Vorsicht bewegen, weil viele der Tiere, die durchs Unterholz krochen oder sich um Äste schlangen, ein tödliches Gift verspritzen konnten.
Clodovec, der König, hatte keine Furcht vor ihnen. Unter einem Fächer aus tiefgrünen Blättern blieb er stehen. Eine leuchtend grüne Kreatur wand sich aus dem Herzen eines besonders großen Blattes und erforschte
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