Das magische Land 1 - Der Orden der Rose
gesehen hatte.
Herzog Urien war stark gealtert, seit er ihr das Portrait geschickt hatte. Sein Haar war weiß geworden, und auch in seinem Bart war kein einziges schwarzes Haar mehr zu sehen. Er war gebeugt und eingesunken, und seine Hände zitterten. Aber seine Augen waren dunkel und klar, als sie seine Tochter betrachteten — ohne jede Regung, die sie hätte deuten können. Auch sie verriet keinen ihrer Gedanken. Während er sie in Augenschein nahm, betrachtete sie den Raum, in dem er sie empfangen hatte: ein kleiner Raum, weitaus schlichter, als man hätte erwarten können, mit einem Tisch und ein paar Stühlen sowie einer Unzahl von Büchern. Sie bedeckten die Wände und lagen in Stapeln auf dem Boden und auf dem Tisch. Dazwischen befanden sich Pergamentbogen, Schreibfedern und Pinsel, Blöcke und Tintenfässer. Es war das Paradies eines Gelehrten. Gern hätte sie sich darin vertieft. Vielleicht würde sie es eines Tages tun. Heute Abend jedoch wurde sie gründlich inspiziert, genau wie er.
Sie hatte nicht die Absicht, das Schweigen zu brechen, nachdem sie sich vor ihm verneigt und ihm den gebührenden Respekt erwiesen hatte. Sie stand da mit gefalteten Händen und gesenktem Kopf, den Blick auf die in der Nähe stehenden Bücher gerichtet. Die Titel auf ihren Rücken waren fast eine zu große Ablenkung. Schließlich sagte er: »Wir werden nicht oft miteinander reden. Es wäre nicht angebracht. Ich hoffe, du wirst das verstehen.«
Sie nickte.
»Dann verstehst du sicher auch«, sagte er, »warum ich so gehandelt habe, wie ich es tat. Bedauerst du die Jahre auf der Insel?«
Sie bemühte sich, langsam zu atmen. »Nein, das tue ich nicht.« »Und dennoch wirst du mir nicht vergeben.«
»Was gibt es zu vergeben? Ein Kind in Pflege zu geben, ist nicht unehrbar. Ihr wähltet die Insel, für die ich gut geeignet war.«
»Und jetzt habe ich dich wieder von dort fortgerissen.«
Sie schaute auf, weil sie das Bedürfnis hatte, sein Gesicht zu sehen. Es war so undurchdringlich wie zuvor.
Dennoch, als sie es vor sich sah, wusste sie, was sie zu sagen hatte. »Ihr habt Eure Gründe.«
»Du vertraust mir?«
Sie dachte darüber nach. Er war klug genug, auf ihre Antwort zu warten. Nach einer Weile sagte sie schließlich: »Ich glaube schon. Ihr mögt vielleicht nichts für mich empfinden, aber dieses Herzogtum ist Euer Ein und Alles. Ihr werdet mich vor Schaden bewahren, um es zu schützen.«
»Deine Mutter war mein Ein und Alles«, sagte er so nüchtern, dass sich ihr Herz zusammenkrampfte. »Du bist von ihrem Blut und ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Auch du bist mein Ein und Alles, mag ich es auch noch so wenig gezeigt haben.«
»Ihr habt getan, was Ihr für das Beste hieltet.« Die Worte klangen kalt, ihr fiel nichts anderes ein, was sie hätte sagen können.
Sein schwacher Seufzer kündete von lebenslangem Bedauern. Unter Schmerzen richtete er sich auf. Als er wieder anfing zu reden, sprach er fast so kalt wie ein Herzog zu seinem Diener. »Jennet wird dich in deine Pflichten einweisen. Diese werden leicht sein, aber um die Illusion aufrechtzuerhalten, müssen sie für jeden sichtbar und glaubhaft sein.«
»Ich verstehe«, sagte Averil. »Ich tauge leidlich als Zofe. Ich kenne mich ein bisschen mit Heilkräutern und den niederen Künsten des Heilens aus, sollte dies von Nutzen sein. Und ich bin ein tüchtiger Stallknecht.«
Beim letzten Satz zuckte er zusammen, nur ein klein wenig, aber sie sah, dass seine Regung aufrichtig war. »Heute Nacht kannst du dich bequem ausruhen. Am Morgen geht die Täuschung weiter. Schlaf gut. Versuch, gut von mir zu denken.«
»Ich habe nie anders über Euch gedacht.«
Wäre sie ein anderer Mensch gewesen, so hätte sie versucht, die Kälte zwischen ihnen zu überwinden, und ihn umarmt, ihn vielleicht sogar geküsst. Aber sie konnte sich nicht dazu überwinden. Er verbeugte sich steif. Sie erwiderte die Verbeugung.
Jennet wartete darauf, sie in ein nahegelegenes Zimmer zu bringen: ruhig und abgeschieden und von ähnlich verborgenem Luxus wie die Kleider, die Averil trug. Plötzlich war sie müde und vollkommen erschöpft. Jeglicher Widerstand in ihr war erloschen.
Sie ging, wohin sie geführt wurde, und legte sich auf das Lager, das man ihr zuwies. Der Schlaf überkam sie mit Macht, und noch während sie sich von ihm davontragen ließ, spürte sie, dass Magie darin lag.
Kapitel 12
eigentlich wäre es Gereint am liebsten gewesen, sich in den Ställen des Herzogs zu
Weitere Kostenlose Bücher