Das magische Land 2 - Das Amulett der Schlange
Spielereien war er nicht hergekommen. Vorsichtig ging er an der Rüstung vorbei, wobei er das Gefühl verscheuchte, von unsichtbaren Augen hinter den Augenschlitzen beobachtet zu werden. Vor dem Arbeitstisch mit den geschnitzten Beinen und der intarsierten Tischplatte blieb er stehen. Die Kristallkugel in ihrer Schale ruhte in der äußersten Ecke, als hätte man sie wegen wichtigerer Dinge beiseitegeschoben. Ein Bücherstapel, Tinte und Federn, ein paar bekritzelte Pergamentbögen und ein Gebilde aus Glasstäben und Prismen weckten wie die Ritterrüstung Gereints Interesse.
Aus schmerzhafter Erfahrung wusste er, welche Gefahr darin lag. Erneut schottete er seinen Geist gegen jede Versuchung ab und wandte sich der Kristallkugel zu.
Sie sang. Der Klang war nur für das Herz hörbar, ein hoher, reiner Ton, der den Raum mit Süße erfüllte.
Gereint mahnte all seine Sinne zur Ordnung und rief sich alles ins Gedächtnis, was er über Seherspiegel wusste. Leider war das nicht besonders viel. Ein Magier sollte seinen Verstand sammeln, seine Magie zur Ordnung rufen, und er durfte auf keinen Fall die Kontrolle über die Vision verlieren. Er schloss die Augen, verharrte einen Moment lang in der sternenerleuchteten Dunkelheit. Als er sie öffnete, flackerte ein Licht im Glas. Es war klein, zuerst kaum zu sehen, aber nach und nach wurde es heller.
Er konnte fühlen, wie sein Wille zerfaserte und auseinandertrieb. Bilder flackerten auf, sprangen von einem zum anderen. Er knirschte mit den Zähnen und kniff die Augen zusammen und beschwor seine Erinnerung an Averil herauf.
Es war nicht so sehr Gesicht und Körper, obwohl er beides mehr als anziehend fand. Es war teils ihr Geruch, wie Moschus und Kräuter und frischgewaschene Haut, und teils der Klang ihrer Stimme und ein wenig die Art, wie sie sich bewegte. Und vor allem, wer sie war: der Kern ihres Wesens, der in seinem Herzen wohnte. Dafür hatte er keine Worte, aber er brauchte auch keine. Er konzentrierte sich darauf und richtete diese Konzentration in das Glas. Es leistete Widerstand: Es war ein machtvolles Ding, und solche Dinge waren nicht zu blindem Gehorsam geschaffen. Ein Magier musste sich das Recht dazu verschaffen, sich ihrer zu bedienen.
Wahrscheinlich gab es subtilere Mittel, um das Glas unter Kontrolle zu bekommen. Gereint konnte sich nur gegen den Widerstand stemmen, bis dieser oder er selbst nachgab. Er musste Averil finden. Es gab keine Alternative. Er würde sie finden.
Jemand war hinter ihn getreten. Er wagte nicht, seine Augen vom Glas zu wenden, nicht einmal aus Schuldgefühl oder Angst erwischt zu werden. Er kannte die Präsenz des Ritters fast genauso gut wie die Averils: Es war Mauritius.
»Helft mir«, sagte er.
Mauritius kannte Gereint besser als die meisten anderen. Er begann keine Auseinandersetzung, wies den Knappen auch nicht zurecht, weil er sich erdreistete, einem Ritter Befehle zu geben. Er trat an Gereints Seite, ergriff seine Magie, als wäre sie ein Schwertgriff, und richtete sie zielsicher ins Herz des Kristalls.
Die Verbindung war nicht so sanft wie jene, die Gereint mit Averil einging, noch ging sie genauso tief, aber sie brachte seine Stärke mit dem Können eines Meisters zusammen. Ablenkungen und Versuchungen wurden nichtig. Es war, als würde er durch tiefes Wasser in plötzliche Helligkeit stürzen.
Die Welt sang. Weit fort in kalten Fernen tosten Wellen und klatschten auf Steine. Wo Averil sich befand, war strahlender Frieden und eine gespenstische und jenseitige Musik.
Sie war ihm fremd und gleichzeitig vertraut. Das Wildvolk sang unter dem Meer.
Als Averils Augen sich an das durchsichtige, unergründliche Licht gewöhnt hatten, sah sie sie alle um sich herumschwimmen. Anstelle von Flügeln und Klauen bevorzugten sie Kiemen und Flossen, die an diesem Ort dienlicher waren. Jene, die von menschenähnlicher Gestalt waren, hatten meist runde fischartige Augen und flache, nasenlose Gesichter und ihre Beine waren wie miteinander verflochtene Glasstäbe und endeten in einer Art Delphinschwanz. Ein Schwarm von ihnen schwamm auf sie zu und zog Jennet sanft, aber unerbittlich aus ihrem Griff. Jennets Gesicht war bleich, ihr dunkles Haar trieb wie Seegras im Wasser, ihre Arme hingen schlaff herab. Sie atmete nicht, genauso wenig wie Averil — sonst wären sie beide ertrunken.
Wenn sie tot waren, wie kam es, dass Jennet immer noch schlief und Averil hellwach war? Averil fühlte sich nicht tot. Stattdessen fühlte sie sich
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