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Das Magische Messer

Das Magische Messer

Titel: Das Magische Messer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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seien, da der Knochen am Rand geheilt sei und sich verwachsen habe. Nur bei einem Schädel war es anders: Das Loch war von einer bronzenen Pfeilspitze verursacht worden, die immer noch in ihm steckte, und es hatte scharfe, gesplitterte Ränder, so dass man den Unter  schied leicht sehen konnte.
    So etwas machten die nördlichen Tataren. Und Stanislaus Grumman hatte es bei sich selbst gemacht, laut Auskunft der Wissenschaftler von Jordan College, die ihn gekannt hatten. Lyra sah sich rasch um und holte, als sie niemanden sah, das Alethiometer heraus und hielt es in das staubige Licht, das durch das Glasdach schräg an den Galerien vorbeifiel.
    Sie konzentrierte sich auf den mittleren Schädel und fragte: Wem gehörte dieser Schädel und warum hat er diese Löcher?
    So vertieft war sie, dass sie nicht bemerkte, dass sie beobachtet wurde.
    Auf der Galerie über ihr stand ein kräftig aussehender Mann in den Sechzigern in einem maßgeschneiderten Leinenanzug und mit einem Panamahut in der Hand und sah über das eiserne Geländer herunter.
    Seine grauen Haare waren sorgfältig aus der glatten, gebräunten und kaum von Falten durchzogenen Stirn gekämmt. Er hatte große, dunkle und stechende Augen mit langen Wimpern, und etwa einmal in der Minute erschien seine spitze, dunkle Zunge im Mundwinkel und fuhr in einer schnellen Bewegung feucht über seine Lippen. Das schneeweiße Tüchlein in seiner Brusttasche verströmte einen schweren Duft ähnlich jenen Gewächshauspflanzen, die so intensiv duften, dass man die Fäulnis an ihren Wurzeln riecht.
    Er beobachtete Lyra schon seit einigen Minuten. Er war ihr auf der Galerie gefolgt, wenn sie unten weiterging, und als sie vor der Vitrine mit den Schädeln stehen blieb, betrachtete er sie eingehend: ihre ungebärdigen, ungekämmten Haare, den blauen Fleck auf ihrer Wange, die neuen Kleider, den nackten, über das Alethiometer gebeugten Hals und die nackten Beine.
    Er entfaltete das Brusttuch und tupfte sich damit die Stirn ab, dann ging er zur Treppe.
    Lyra war vollkommen in das Alethiometer vertieft. Sie erfuhr seltsame Dinge. Die Schädel waren unvorstellbar alt. Auf den Kärtchen in der Vitrine stand nur »Bronzezeit«, aber das Alethiometer, das nie log, sagte, der Mann mit dem mittleren Schädel habe dreiunddreißigtausend-zweihundert-und-vierundfünfzig Jahre vor der Gegenwart gelebt; er sei Zauberer gewesen, und das Loch sei gebohrt worden, um die Götter in seinen Kopf zu lassen. Und in der beiläufigen Art, mit der es manchmal Fragen beantwortete, die Lyra gar nicht gestellt hatte, fügte es hinzu, die trepanierten Schädel seien von deutlich mehr Staub umgeben als der Schädel mit der Pfeilspitze.
    Was um alles in der Welt hatte das zu bedeuten? Als Lyra wieder aus der konzentrierten Ruhe auftauchte, in der sie mit dem Alethiometer kommunizierte, und nach und nach in die Gegenwart zurückkehrte, merkte sie, dass sie nicht mehr al  lein war. Ein älterer, süßlich riechender Herr in einem hellen Anzug sah aufmerksam in die Vitrine neben ihr. Er erinnerte sie an jemanden, doch fiel ihr nicht ein, an wen.
    Er merkte, dass Lyra ihn anstarrte, und blickte lächelnd auf.
    »Du siehst dir die trepanierten Schädel an?«, fragte er. »Was für seltsame Dinge die Menschen doch mit sich anstellen.«
    »Mhm«, sagte sie ausdruckslos.
    »Weißt du, dass einige Leute das heute noch tun?«
    »Ja«, sagte sie gedehnt.
    »Hippies zum Beispiel, solche Leute. Aber natürlich, du bist viel zu jung, um zu wissen, was Hippies sind. Sie behaupten, solche Löcher seien noch viel wirksamer als Drogen.«
    Lyra hatte das Alethiometer wieder in ihren Rucksack gesteckt und überlegte, wie sie dem Mann entkommen konnte. Die wichtigste Frage hatte sie noch gar nicht gestellt und jetzt verwickelte dieser Mann sie in ein Gespräch. Wenigstens schien er ganz nett, und auf jeden Fall roch er gut. Er war näher gekommen. Als er sich über die Vitrine mit den Schädeln beugte, streifte seine Hand die ihre.
    »Macht einen neugierig, oder? Kein Betäubungsmittel, kein Desinfektionsmittel, und wahrscheinlich mit Steinwerk  zeugen gemacht. Diese Menschen müssen einiges ausgehalten haben, wie? Ich glaube nicht, dass ich dich hier schon gesehen habe. Ich komme oft her. Wie heißt du?«
    »Lizzie«, sagte sie ohne zu zögern.
    »Lizzie. Guten Tag, Lizzie. Ich bin Charles. Gehst du in Oxford zur Schule?«
    Sie wusste nicht, was sie antworten sollte.
    »Nein«, sagte sie.
    »Nur auf Besuch hier? Tja, da hast

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