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Das Magische Messer

Das Magische Messer

Titel: Das Magische Messer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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schien, als wollte die ganze Welt auseinander brechen; seit Menschengedenken hatte es keinen solchen Sturm gegeben. Und dann kam der Nebel. Er dauerte tagelang und bedeckte sämtliche Gebiete der Welt, von denen ich weiß, und niemand konnte reisen. Und als der Nebel sich hob, wimmelte es in den Städten von Hunderten und Tausenden von Gespenstern. Also flohen wir in die Berge und aufs Meer hinaus, aber diesmal gibt es kein Entrinnen, wohin wir auch gehen. Das haben Sie ja selbst gesehen. – Doch jetzt sind Sie dran. Erzählen Sie mir von Ihrer Welt und warum Sie sie verlassen haben und hierhergekommen sind.«
    Serafina berichtete wahrheitsgemäß, was sie wusste. Joachim Lorenz war ein ehrlicher Mann, vor dem man nichts zu verbergen brauchte. Er hörte aufmerksam zu und schüttelte immer wieder erstaunt den Kopf.
    Als sie geendet hatte, sagte er: »Ich habe Ihnen erzählt, dass unsere Philosophen angeblich die Macht haben, Türen zu anderen Welten zu öffnen. Einige glauben, dass sie aus Vergesslichkeit gelegentlich einen Durchgang offen lassen; es würde mich nicht überraschen, wenn auf diesem Weg gelegentlich Reisende aus anderen Welten hierher kämen. Schließlich wissen wir, dass auch Engel das tun.«
    »Engel?«, fragte Serafina. »Sie haben schon einmal von ihnen gesprochen. Wir haben noch nie von Engeln gehört. Wer sind sie?«
    »Sie wollen wissen, wer Engel sind?«, fragte Joachim Lorenz. »Also gut. Soviel ich weiß, nennen sie sich selbst bene elim. Einige nennen sie auch Beobachter. Sie bestehen nicht aus Fleisch und Blut wie wir, sondern sind geistige Wesen, oder vielleicht ist ihr Fleisch einfach aus einer feineren Substanz als unseres, heller und durchsichtiger, ich weiß es nicht. Jedenfalls sind sie nicht wie wir. Sie befördern Botschaften des Himmels, das ist ihre Aufgabe. Gelegentlich sehen wir sie hoch am Himmel, wenn sie auf dem Weg in eine andere Welt durch diese kommen; sie leuchten wie Glühwürmchen. In einer ruhigen Nacht kann man sogar ihre Flügel schlagen hören. Sie gehen ganz anderen Dingen nach als wir, obwohl sie vor langer Zeit zu uns herunterkamen und mit den Menschen verkehrten; einige meinen, sie hätten sogar Kinder mit den Menschen gezeugt.
    Der Nebel, der nach dem großen Sturm kam, überraschte mich auf dem Heimweg in den Bergen hinter der Stadt Sant’Elia. Ich verkroch mich in einer Schäferhütte bei einer Quelle nahe eines Birkenwäldchens, und die ganze Nacht hörte ich über mir im Nebel Stimmen, erschrockene und wütende Schreie und auch Flügelschläge, so nahe, wie ich sie noch nie gehört hatte; und als die Morgendämmerung näher rückte, war Kampflärm zu hören, das Schwirren von Pfeilen und das Klirren von Schwertern. Obwohl ich vor Neugier fast platzte, wagte ich nicht hinauszugehen und nachzusehen, denn ich hatte Angst, ich war wie benommen vor Angst. Erst als es so hell geworden war, wie es während des Nebel möglich war, wagte ich einen Blick nach draußen, und ich sah eine große Gestalt verwundet an der Quelle liegen. Mir war zu  mute, als sähe ich Dinge, die zu sehen ich kein Recht hatte – heilige Dinge. Ich musste wegsehen, und als ich wieder hin  sah, war die Gestalt verschwunden.
    Näher kam ich einem Engel nie. Aber wie ich vorhin gesagt habe, gestern Abend sahen wir sie hoch am Himmel, unter den Sternen, zum Pol unterwegs wie eine Flotte gewaltiger Segelschiffe … Es geschieht etwas, aber wir hier unten wissen nicht, was. Vielleicht kommt es bald zum Krieg. Es gab schon einmal einen Krieg im Himmel, vor Tausenden von Jahren, vor Äonen, aber ich weiß nicht, wie er ausging. Es ist nicht auszuschließen, dass ein zweiter bevorsteht. Die Zerstörung wäre freilich unermesslich, und die Folgen für uns … unvorstellbar.«
    Er beugte sich vor, um das Feuer zu schüren. Dann fuhr er fort: »Obwohl sie womöglich nicht so schlimm wären, wie ich fürchte. Ein Krieg im Himmel würde vielleicht die Gespenster aus dieser Welt hinwegfegen, zurück in den Abgrund, aus dem sie gekrochen sind. Was für ein Segen das wäre! Wie froh und glücklich wir leben könnten, befreit von dieser schrecklichen Pest!«
    Doch Joachim Lorenz sah keineswegs hoffnungsvoll aus, als er so ins Feuer starrte. Die Flammen warfen flackernde Schatten auf sein kantiges Gesicht, doch seine Miene blieb unverändert. Grimmig und traurig blickte er vor sich hin.
    »Zum Pol«, sagte Ruta Skadi nachdenklich. »Sie sagten, die Engel würden zum Pol fliegen, Sir. Wissen Sie warum?

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