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Das Magische Messer

Das Magische Messer

Titel: Das Magische Messer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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war jedenfalls unmissverständlich. Der Mann senkte das Gewehr und blickte abwartend von Serafina zu den anderen Hexen und zu ihren Dæmonen hinauf, die oben am Himmel kreisten. Junge, verwegen aussehende Frauen in Tüchern aus schwarzer Seide, die auf Kiefernzweigen über den Himmel flogen – in seiner Welt gab es nichts Vergleich  bares, und er blickte ihnen mit gespannter Aufmerksamkeit entgegen. Als Serafina näher kam, sah sie, dass sein Gesicht von Kummer und Stärke zugleich gezeichnet war. Sie konnte das nur schwer mit ihrer Erinnerung daran in Einklang bringen, wie er geflohen war und seine Gefährten ihrem Schicksal überlassen hatte.
    »Wer sind Sie?«, fragte er.
    »Ich heiße Serafina Pekkala und bin die Königin der Hexen vom Enarasee, der in einer anderen Welt liegt. Und Sie?«
    »Ich bin Joachim Lorenz. Hexen, sagen Sie? Sind Sie mit dem Teufel im Bund?«
    »Wenn ja, wären wir dann Ihre Feinde?«
    Er dachte einen Augenblick nach, dann legte er sein Gewehr über seine Schenkel. »Früher vielleicht«, sagte er, »aber die Zeiten haben sich geändert. Warum sind Sie in diese Welt gekommen?«
    »Weil die Zeiten sich geändert haben. Was sind das für Kreaturen, die Ihre Mitreisenden angegriffen haben?«
    »Das sind die Gespenster …«Er zuckte die Schultern, halb erstaunt. »Kennen Sie die Gespenster nicht?«
    »Wir sind ihnen in unserer Welt nie begegnet. Wir haben Sie fliehen sehen und wussten nicht, was wir davon halten sollen. Jetzt verstehe ich es.«
    »Es gibt kein Mittel gegen sie«, sagte Joachim Lorenz. »Sie verschonen nur Kinder. Jede Gruppe von Reisenden muss deshalb laut Gesetz einen Mann und eine Frau zu Pferd dabei haben; sonst haben die Kinder niemand, der sich um sie kümmert. Aber die Zeiten sind schlecht; in den Städten wimmelt es von Gespenstern, während es dort früher höchstens ein Dutzend gab.«
    Ruta Skadi sah sich suchend um und bemerkte, dass der andere Reiter zu den Wagen zurückkehrte. Er war tatsächlich eine Frau. Die Kinder rannten ihr entgegen.
    »Aber was suchen Sie hier?«, fuhr Joachim Lorenz fort. »Darauf haben Sie mir noch keine Antwort gegeben. Sie sind sicher nicht ohne Anlass hergekommen. Antworten Sie mir.«
    »Wir suchen ein Kind«, sagte Serafina, »ein kleines Mädchen aus unserer Welt. Sie heißt Lyra Belacqua, genannt Lyra Listenreich. Wir haben keine Ahnung, wo sie sein könnte, und auch diese Welt ist groß. Sie sind keinem fremden Kind begegnet, das allein unterwegs ist?«
    »Nein. Aber gestern Abend haben wir Engel auf dem Weg zum Pol gesehen.«
    »Engel?«
    »Scharenweise, und alle bewaffnet. Sie waren in den letzten Jahren nicht oft zu sehen, obwohl sie zu meines Großvaters Zeiten oft durch diese Welt kamen, zumindest behauptete er das.«
    Er hob wieder die Hand über die Augen und starrte zu den verstreuten Wagen und den erstarrten Reisenden hinunter. Die Frau war abgestiegen und tröstete einige der Kinder.
    Serafina folgte seinem Blick und sagte: »Wenn wir heute hier übernachten und gegen die Gespenster Wache halten, erzählen Sie uns dann mehr von dieser Welt und den Engeln, die Ihr gesehen habt?«
    »Das will ich gern tun. Kommt mit.«
     
     
    Die Hexen halfen die Wagen über die Brücke zu schieben, weg von den Bäumen, aus denen die Gespenster gekommen waren. Die überfallenen Erwachsenen mussten bleiben, wo sie waren, so sehr es auch schmerzte zu sehen, wie Kinder sich an einer Mutter festhielten, die ihnen nicht mehr antwortete, oder am Ärmel eines Vaters zerrten, der nichts sagte, sondern nur ins Leere starrte. Die kleineren Kinder konnten nicht verstehen, warum sie ihre Eltern verlassen mussten. Die älteren, von denen einige schon die Eltern verloren und das alles durchgemacht hatten, starrten nur traurig vor sich hin und sagten nichts. Serafina nahm den kleinen Jungen in den Arm, der in den Fluss gefallen war und der jetzt nach seinem Vater rief und über Serafinas Schulter die Hand nach der stummen Gestalt ausstreckte, die bewegungslos und gleichgültig im Wasser stand. Serafina spürte seine Tränen auf ihrer Haut.
    Die Frau, die grobe Leinenhosen trug und wie ein Mann ritt, sprach nicht mit den Hexen. Sie sah grimmig aus, trieb die Kinder energisch an, sprach streng mit ihnen und beachtete ihre Tränen nicht. Die Abendsonne tränkte die Luft in ein goldenes Licht, das jedes Detail klar hervortreten ließ, und die Gesichter der Kinder, des Mannes und der Frau schienen von einer unsterblichen Schönheit und Kraft zu

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