Das Magische Messer
erstrahlen.
Später, als in einem Kreis grauer Felsbrocken die letzten Reste eines Feuers glommen und die großen Berge still im Mondlicht dalagen, erzählte Joachim Lorenz Serafina und Ruta Skadi die Geschichte seiner Welt.
Sie sei einst glücklich gewesen, begann er, eine Welt weit läufiger, vornehmer Städte und wohlbestellter, fruchtbarer Felder. Handelsschiffe durchpflügten die blauen Meere, und Fischer holten prall mit Kabeljau, Thunfisch, Barsch und Seebarbe gefüllte Netze ein; in den Wäldern wimmelte es von Wild, und kein Kind musste Hunger leiden. Auf den Höfen und Plätzen der großen Städte verkehrten Botschafter aus Brasilien und Benin, Irland und Korea,
Tabakverkäufer, Kommödianten aus Bergamo und Losverkäufer. Nachts trafen sich maskierte Liebende unter rosenüberwachsenen Kolonnaden oder in von Lampions erleuchteten Gärten, und die Luft duftete nach Jasmin und erzitterte von den Klängen der saitenbespannten Mandarone.
Mit großen Augen lauschten die Hexen dieser Geschichte von einer Welt, die der ihren so ähnlich war und zugleich so verschieden davon.
»Doch dann«, fuhr der Joachim Lorenz fort, »vor dreihundert Jahren, kam das Verhängnis. Manche geben der Zunft der Philosophen vom Torre degli Angeli, vom Turm der Engel in jener Stadt, die wir vor kurzem verlassen haben, die Schuld. Andere sagen, es sei die Strafe für eine große Sünde, die wir begangen hätten, obwohl ich noch nie zwei gleiche Meinungen darüber gehört habe, was diese Sünde sein soll. Aber plötzlich tauchten aus dem Nichts die Gespenster auf, und seitdem suchen sie uns heim. Sie haben gesehen, was sie tun. Jetzt stellen Sie sich vor, was es heißt, in einer Welt mit solchen Gespenstern zu leben. Wie können wir gedeihen, wenn wir damit rechnen müssen, dass nichts so bleibt, wie es war? Jeden Augenblick können sie einen Vater oder eine Mutter holen, und die Familie zerfällt; oder sie holen einen Kaufmann, und sein Unternehmen geht zugrunde und alle seine Angestellten verlieren ihre Stelle; und wie können Menschen, die sich lieben, ihren Schwüren noch trauen? Alles Vertrauen und alle Tugend verschwanden aus unserer Welt, als die Gespenster kamen.«
»Wer sind diese Philosophen?«, fragte Serafina. »Und wo steht dieser Turm, von dem Sie gesprochen haben?«
»Er steht in der Stadt, aus der wir kommen – in Cittàgazze, der Stadt der Elstern. Und wissen Sie, warum sie so heißt? Weil Elstern stehlen und weil das alles ist, was wir noch können. Seit Jahrhunderten haben wir nichts mehr geschaffen, nichts mehr gebaut, wir können nur noch aus anderen Welten stehlen. O ja, wir kennen andere Welten. Die Philosophen vom Torre degli Angeli haben alles entdeckt, was wir darüber wissen müssen. Sie haben einen Zauberspruch, der dem, der ihn sagt, ermöglicht, durch eine Tür, die es gar nicht gibt, in eine andere Welt zu gehen. Einige sagen, der Zauber sei kein Spruch, sondern ein Schlüssel, der selbst dort öffnet, wo kein Schloss ist. Wer weiß? Ob Spruch oder Schlüssel, jedenfalls ließ dieser Zauber die Gespenster herein. Und soviel ich weiß, verwenden die Philosophen ihn immer noch. Sie suchen andere Welten auf, stehlen etwas und bringen es hierher zurück, Gold und Edelsteine natürlich, aber auch andere Dinge wie Ideen, Säcke mit Getreide oder Bleistifte.« Und mit bitterer Stimme fügte er hinzu: »Diese Zunft von Dieben also ist die Quelle unseres ganzen Reichtums.«
»Warum tun die Gespenster den Kindern nichts?«, fragte Ruta Skadi.
»Das ist das größte Geheimnis von allen. In der Unschuld der Kinder liegt eine Kraft, die die sonst so gleichgültigen Gespenster abschreckt. Aber es steckt noch mehr dahinter. Kin der sehen die Gespenster nicht, den Grund dafür kennen wir nicht. Sie können sich vorstellen, dass Gespensterwaisen häufig sind, also Kinder, deren Eltern den Gespenstern zum Opfer gefallen sind. Sie rotten sich zu Banden zusammen und ziehen durch die Gegend, und manchmal lassen sie sich von Erwachsenen anmieten, um in gespensterverseuchten Gebieten nach Nahrungsmitteln und anderen Vorräten zu suchen; manchmal leben sie auch einfach von Abfällen. So sieht also unsere Welt aus. Natürlich haben wir uns mit diesem Fluch arrangiert. Die Gespenster sind echte Parasiten: Sie töten ihren Wirt nicht, auch wenn sie das meiste Leben aus ihm he raussaugen. Aber es war wieder eine Art Gleichgewicht ein gekehrt – bis vor kurzem, bis zu dem großen Sturm, einem gewaltigen Sturm, und es
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