Das Mal der Schlange
Tageslicht aussah, denn sie hatte sie schon oft benutzt.
Die alte Handelsstraße der Römer ging etwas weiter außerhalb über in das antike helle Pflaster, über das schon unendlich viele Füße gelaufen waren. Die Regina Viarum, die Königin der Straßen, führte bis hinunter nach Brindisi, am Sporn des italienischen Stiefels, wo sie am Hafen endete. Sklaven, Tiere und Waren aus aller Herren Länder hatten hier die Schiffe verlassen, auf denen man sie aus ihrer Heimat verschleppt hatte, und erstmals römischen Boden betreten. Für viele von ihnen hatte es nur diesen einen Weg gegeben, hinein nach Rom, in vornehme Häuser oder in die Arena und erst nach ihrem Tod hatten sie die Stadt wieder verlassen – auch dann auf der Via Appia.
Den antiken Römern war es nicht gestattet gewesen, ihre Toten innerhalb der Stadtgrenze zu beizusetzen, deshalb nutzten sie die Ausfallstraßen dafür. Entlang der Via Appia reihten sich die Grabmäler der vermögenden Bürger aneinander, manche standen heute noch - und weiter draußen waren die ärmeren Menschen beerdigt worden. Unterirdisch, in das weiche Tuffgestein geschlagen, lag Nische an Nische, in einem endlosen Netz aus Gängen und Räumen. In den Katakomben ruhte der Plebs.
Während sie die von Alleebäumen gesäumte Straße entlangfuhren dachte Emmaline an die Menschen, die vor ihr diesen Weg genommen hatten, lebend oder tot und sie schauerte unwillkürlich.
Neben dem Eingang zur Calixtus Katakombe stand eine schlanke, hohe Zeder. Ihre spindelförmigen Äste hoben sich schwarz gegen den indigofarbenen Nachthimmel ab.
Der Mond war abnehmend, aber noch voll genug, um mit seinem Licht die Wiese in ein schwaches Licht zu tauchen.
Emmaline war immer gerne hierher gekommen, in den heißen Sommermonaten. Stundenlang hatte sie im Schatten unter den Bäumen gesessen, ein Buch auf den Knien, die Zeit völlig vergessend. Nun hielt sie es für eine Ironie des Schicksals, dass genau jener Ort, an dem sie immer Frieden und Entspannung empfunden hatte, plötzlich Gefahr bedeutete.
Massimo stand neben der Zeder und erwartete sie bereits. Unbewegt sah er zu, wie Daniele den alten Motorroller abstellte und die beiden sich auf ihn zu bewegten.
„ Es ist lange her“, sagte er zur Begrüßung.
„ Ich weiß, Bruder. Und wir danken dir dafür, dass du zu einem Gespräch mit uns bereit bist.“
Er sah aus wie immer, das Mondlicht spiegelte sich auf seinem kahlen Kopf, die lange gebogene Nase warf einen Schatten auf seine schmale Oberlippe. Obwohl die Nacht warm war, trug er eine weite schwarze Jacke, beinahe eine Kutte. Kaum merklich nickte er mit dem Kopf und forderte Emmaline auf, weiterzusprechen.
„ Wie du weißt habe ich unser Geheimnis viele Jahre lang vor meinem Mann gewahrt, aber kürzlich haben mich besondere Umstände dazu bewogen, ihm die Wahrheit zu erzählen.“
Massimos Mundwinkel zuckte angewidert, „Ich weiß, ich weiß. Was für ein dummer Zufall, diese ohnehin schon beinahe tote Person aus deiner Vergangenheit ausgerechnet in Amerika zu treffen…“
Daniele sog hörbar die Luft ein, aber Emmaline drückte seine Hand, um ihn zurück zu halten.
„ Ganz Recht. Wirklich, ich war auch sehr überrascht und da ich auf einem zweifelsfrei sehr alten Foto abgebildet war, musste ich mich erklären.“
„ Schwester, das war bedauerlich. Ich hätte eigentlich mehr Einfallsreichtum von dir erwartet. Eine schnelle Lüge kann doch nicht so schwierig sein.“
„ In diesem Moment war ich einfach zu schockiert. Und dann konnte ich meinen Mann nicht weiter belügen.“
„ Ach ja, richtig!“, Verachtung lag auf seinem Gesicht, „Du musstest ja unbedingt einen Sterblichen heiraten, obwohl du wusstest, dass die Familie das missbilligt. Und dann hattest du in deiner Arroganz geschworen zu schweigen – wie lächerlich! Mir war von Anfang an klar, dass du eines Tages dein Wort brechen würdest. Erstaunlich, du hast viel länger durchgehalten, als ich es dir zugetraut hätte!“
Wenn sie die Hand ausstreckte, konnte sie ihn berühren, so dicht stand er vor ihnen. Weder Emmaline noch Daniele wichen zurück.
„ Es tut mir unendlich leid, dass ich euch in eine unangenehme Situation gebracht habe“, warf Daniele nun beschwichtigend ein, „Aber ihr könnt euch auf mich verlassen, ich werde nie jemandem etwas von den Zeitjägern erzählen. Ich gebe dir mein Wort.“
Massimo ignorierte ihn und starrte Emmaline nun mit offener Feindseligkeit an.
„ Weißt du eigentlich, welche
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