Das marokkanische Mädchen. Ein Fall für Jacques Ricou
sich höflich für die Störung entschuldigt hatte. Nein, für das »Ungemach« bat er um Pardon, so vornehm formulierte er seine Bitte gegenüber dem alten Chinesen, von dem er wusste, wie streng er auf Etikette bedacht war.
Er, sagte Monsieur, müsse Gao Qiu so schnell wie möglich erreichen. Ihn fragen, ob der Chef der Triade ihm helfen könne. Es gehe dabei buchstäblich um Leben und Tod.
Nämlich um den schnellen Tod eines kleinen Mädchens.
Doch das verschwieg Monsieur. Der Drachenmeister hatte gleich aufgehängt, nachdem er zugesagt hatte, alles zu tun, was in seiner Macht stehe. Monsieur hatte keinen Zweifel daran, in den nächsten dreißig Minuten von Gao Qiu zu hören.
Die alte Pistole
J acques war müde. Er saß allein im nüchtern eingerichteten Büro von Kommissar Jean Mahon und wartete. Nur einmal läutete das Telefon, dreimal, aber er hob nicht ab. Dreimal klingeln lassen und dann ausschalten! Das ist sowieso zu knapp. Da ist jemand ungeduldig. Und schließlich war es ja auch nicht sein Apparat, dachte er. Für mich wird es schon nicht sein.
Jean Mahon war eilig aufgestanden, als Jacques an der nur angelehnten Tür klopfte, und hatte gesagt, er wolle schnell Eiswürfel und eine Flasche Perrier aus der Kantine holen. Die halb volle Flasche Bruichladdich mit dem hellblauen Etikett stand schon auf dem Schreibtisch, daneben zwei Gläser.
»Lass doch!«, sagte Jacques, »wir können einfach Leitungswasser nehmen.« Die Kantine war weit weg, im Keller.
»Hast du den Wahnwitz über unser Leitungswasser nicht gelesen?«, sagte der Kommissar lachend.
»Nee. Was war da?«
Jean Mahon zog die Nadel aus einem bedruckten Blatt Papier, das an der Pinnwand neben seinem Schreibtisch hing, und reichte es Jacques.
»Lies das, bis ich aus der Kantine zurück bin.«
Die Überschrift lautete: »Empfehlung an Benutzer für den Verbrauch von Wasser.«
In fünf Punkten wurde festgehalten, dass im Palais de Justice nur kaltes Wasser getrunken werden sollte, allerdings erst nachdem der Hahn zwei Minuten lang aufgedreht worden war. Heißes Wasser solle man auch nicht für Kaffee oder Tee verwenden. Und Schwangeren wurde schließlich ganz davon abgeraten, Wasser aus der Leitung zu trinken. Die Rohre waren zu alt und zu defekt. Nicht nur Blei und andere Metalle, auch irgendwelche unangenehmen Bakterien tummelten sich in dem Nass.
Mit dem Gedanken, es werde nun wirklich Zeit für einen Neubau des Palais de Justice, legte Jacques das Blatt zurück auf den Schreibtisch.
Es war schon weit nach sechs.
Martine war glücklich, noch pünktlich zu ihrer Squash-Verabredung aufbrechen zu können.
Die Kammerpräsidentin hatte sich den Zwischenbericht von Jacques schweigend angehört.
Dem Oberpsychologen hatte Jacques am Telefon gesagt, dass er keine Zeit habe und auch keinen Rat benötige. Im Moment noch nicht. Auch was den Umgang mit dem Mädchen betrifft? Damit werde er sich später beschäftigen, sagte Jacques. Jetzt gehe es erst einmal darum, die Fakten zu sortieren. Soweit das überhaupt schon möglich war.
In den langen Fluren des Palais de Justice war Ruhe eingekehrt.
Jacques genoss die Stille.
Dann fiel ihm der Anruf von Margaux ein. Nein. Er würde sie nicht zurückrufen. Warum auch? Ein wenig bedauerte er, dass sie nicht mehr zusammen waren. Er dachte an ihren Körper. Den hatte er gern berührt. Und an ihren Witz. Der war originell. Nach diesem Artikel über den Lifestyle-Richter, der ihn auch jetzt am Abend noch ärgerte, spürte er endgültig keine Lust mehr, mit ihr zu sprechen. Noch nicht einmal über Berufliches.
Martine hatte ihm von ihrer Bemerkung über die »Paparazzi-Reporterin« erzählt. Darüber hatten sie kurz gelacht.
Jacques versuchte sich zu erinnern, wie er durch autogenes Training Entspannung finden könnte. Eine Freundin hatte ihm diese Methode vor Jahren einmal empfohlen. Besser als Yoga, hatte sie gesagt. Aber er hatte sich leider nie tief genug in die Kunst versenkt, die Schwere und dann die Wärme zu erleben und damit dem Gehirn zu sagen, es möge auf Entspannung schalten. Jetzt könnte ich das gebrauchen, dachte er, als er die schweren Schritte von Jean Mahon im Gang hörte.
Aber Whisky wirkt ähnlich entspannend wie autogenes Training, sagte er sich und setzte sich locker auf.
»Du glaubst es nicht. In der Kantine sind die Eiswürfel ausgegangen. Aber wenigstens habe ich eine eiskalte Flasche Perrier«, sagte der Kommissar, schraubte die Flasche Bruichladdich auf, goss einen Daumen
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