Das Mauerblümchen erringen (German Edition)
„Siehst du, wie viel Glück du hast? Dich hat er nicht einmal angesehen.“
„Vielleicht, weil ich zu dick bin? Ich verachte den Mann!“
„Hast du mir nicht zugehört? Er hat dich nicht in Betracht gezogen, weil deine Eltern nicht von Adel sind.“
„Oh, tut mir leid“, sagte Olivia kleinlaut. „Das ist offensichtlich sein wunder Punkt.“
„Wenn er doch nur nicht so verdammt gut aussähe! Ich könnte mir sogar ... ich könnte so viel für ihn empfinden.“
„Lass das lieber. Es wäre doch scheußlich, mit einem Mann verheiratet zu sein, der die Sehnsucht seiner Frau genau erkennt und sich damit begnügt, ihr ab und zu herablassend den Kopf zu tätscheln.“
„Genau das habe ich auch gedacht. Obwohl ich es törichterweise erst nach unserem Kuss begriffen habe. Also habe ich unsere Verlobung gelöst, auch wenn der Kuss einfach wunderbar war.“
„Ein Gutes hat die Sache immerhin“, sagte Olivia und erhob sich. „Du bist kein Mauerblümchen mehr, sondern eine reiche Erbin. Verkünde der neugierigen Menge doch, dass du Ravensthorpe nicht mehr nötig hast!“
„Wenn die Männer nach meiner Erbschaft lechzen, wird es wohl eher die Ballschönheiten treffen“, bemerkte Lucy trocken. „Cyrus — will sagen, Ravensthorpe — hatte immerhin den Vorzug, dass er es nicht auf mein Geld abgesehen hatte.“
„Es gibt noch eine wunderbare Möglichkeit dazwischen: Du lernst jemanden kennen, der von deiner Erbschaft gehört hat und sich dann in dich verliebt!“
Lucy schnaubte verächtlich, doch sie folgte Olivia gehorsam auf den Korridor, wo sie dem Dienstmädchen zunickte. „Olivia, ich fürchte, ich habe meine Tanzkarte verloren. Wahrscheinlich habe ich sie in Lady Summers´ Wohnzimmer liegen lassen. Vielleicht sollte ich lieber heimfahren. Ich sage Mutter einfach, ich hätte Kopfschmerzen.“
Olivia fuhr herum und versetzte Lucy einen Rippenstoß. „Du klingst wie ein welkendes Veilchen. Du musst ihn dir aus dem Kopf schlagen, Lucy! Er verdient dich nicht.“
„Meine Größe störe ihn nicht im Geringsten, hat er gesagt.“ Lucy konnte nicht anders, als die Einzelheiten ihres Tête-à-tête mit Cyrus noch einmal in ihrer Vorstellung vorüberziehen zu lassen.
„Wenn ein Mann ein so zweifelhaftes Kompliment herausquetscht, muss man ihn doch nicht gleich heiraten! Jetzt reiß dich mal zusammen, Lucy. Dass du so groß bist, würde keinen Mann stören, der größer ist, wie zum Beispiel Ravensthorpe.“
„Das stimmt“, gab Lucy zu und richtete sich auf. „Es war eigentlich gar kein richtiges Kompliment, nicht wahr?“
Olivia ließ sich nicht dazu herab, auf die Frage zu antworten. „Du musst dein Licht leuchten lassen, statt dich zu ducken und kleiner zu erscheinen“, schimpfte sie. „Dann wird der Richtige schon kommen!“
Lucy erinnerte sich, wie Cyrus reagiert hatte, als sie ihn zwang, sie wirklich anzuschauen — sie zu sehen . An Olivias Rat war schon etwas dran. Vielleicht war es ein großer Fehler gewesen, sich wegen ihrer Größe dermaßen zu schämen. Sie nickte. „Da magst du rechthaben.“
„Ich meine gesehen zu haben, wie deine Mutter deine Tanzkarte ausfüllte“, berichtete Olivia und hakte Lucy unter. Sie waren an der Tür des Ballsaals angelangt.
„Ja, das hat sie.“
„Dann ist es ja noch viel besser, dass du sie verloren hast. Jetzt weißt du überhaupt nicht, mit wem du tanzen wirst. So kannst du dir den aussuchen, der dir am besten gefällt.“
Lucy gelangte zu einer plötzlichen Erkenntnis und hielt Olivia zurück. „Weißt du, dass dieser Abend eine gute Lektion für mich war?“
Olivia stöhnte verzweifelt. „Aber doch bitte keine dieser Lektionen aus dem Verrückten Spiegel , die meine Mutter dauernd herbetet? Lediglich ein guter Ratschlag für damenhaftes Verhalten?“
„Ja, etwas in der Art“, sagte Lucy und senkte die Stimme. „Denn es ist so: Cyrus — Mr.
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