Das Mauerblümchen erringen (German Edition)
Hetztirade gegen Purpurwesten fort. Wie Lucy seinen gewundenen Ausführungen entnehmen konnte, stand die Farbe Purpur ausschließlich dem Königshaus zu; eine Tatsache, über die nur wirklich ungebildete Menschen nicht Bescheid wussten.
Lucy sah sich im Saal um und entdeckte alle möglichen Spielarten von Purpur, sogar an ihrem Kleid. Sie konnte nur vermuten, dass sie eine Kränkung der Krone beging, was dem Herzog aber offensichtlich entgangen war.
„Lavendelblau“, stieß Pole abgehackt hervor, vermutlich hielt er seinen Tonfall für niederschmetternden Spott. „Violett!“ Er erschauerte. Offenbar hegten die Träger purpurner Westen die Illusion, sich ungestraft unter die Hochgeborenen mischen zu können und so ihre plebejischen Wurzeln zu verbergen.
Als der Tanz endete, kündigte Lady Summers an, dass nun ein leichtes Abendessen serviert werde. Unverzüglich führte der Herzog Lucy zu einem kleinen Tisch in der Bibliothek, an dem seine Freunde saßen. Und auch nachdem sie Platz genommen hatte, überhäufte er sie weiterhin mit seinen Aufmerksamkeiten. Er stellte ihr einen Teller mit Leckerbissen zusammen, beugte sich vor, um ein paar ausgewählte Scherze über die Leute am Nebentisch zum Besten zu geben, und winkte den Lakaien herbei, damit er Champagner nachschenkte.
Für Lucy war es eine unerträgliche Situation. Ab und an fühlte sie sich von seinem kritischen Blick gemustert, als überlegte er, wie er sie, wenn sie ein Baum wäre, zu einer gefälligeren Größe zurechtstutzen könnte. Da nahte die Erlösung in Form eines Freundes ihres Bruders. Lucy sprang auf, als er auf ihren Tisch zutrat, und begrüßte ihn freudig.
Ein rascher Blick auf Pole zeigte, dass er sie mit schlecht verhohlenem Zorn betrachtete. Sie verabschiedete sich flüchtig von ihrem ungebetenen Verehrer und kehrte mit Lord Rathbone in den Ballsaal zurück. Mit ihm zu tanzen war eine wahre Erholung — er hatte ihre Größe, goldenes Haar und verstand sich mühelos auf die Kunst angenehmer Konversation.
Normalerweise hätte Lucys Mutter die Kutsche bereits vor einer Stunde bestellt, aber die würdige Dame war von dem Anblick ihrer Tochter mit Pole so hingerissen gewesen, dass sie sich auf ein bequemes Sofa in Lady Summers´ Wohnzimmer zurückgezogen und Lucy befohlen hatte, sie erst dann zu holen, wenn der Herzog den Ball verlassen hatte.
Rathbone brachte Lucy mit Geschichten über seine Streiche in Cambridge dermaßen zum Lachen, dass sie ein zweites Mal mit ihm tanzte und ihn sodann zu den Tischen in der Bibliothek begleitete, wo eine kleine Mitternachtserfrischung serviert wurde. Bei Pflaumentörtchen entdeckten sie zu ihrem beiderseitigen Entzücken, dass sie Byrons Verse liebten.
„Auf Sie passt ganz hervorragend das Gedicht >In ihrer Schönheit wandelt sie wie wolkenlose Sternennacht<“, zitierte Rathbone, und sein Blick verweilte auf Lucys Haar. „Doch eigentlich mag ich die Gedichte lieber, in denen er sich nicht ganz so selbstsicher gibt. Zum Beispiel jenes, in dem er fleht, lieben zu können, auch wenn er nicht wiedergeliebt wird.“
„Byron wird ganz sicher geliebt“, sagte Lucy und schenkte Rathbone ein verführerisches Lächeln, denn gerade hatte sie Cyrus gesehen, der einen Teller mit Delikatessen für Miss Edger füllte, mit der er zweimal getanzt hatte. Lucy konzentrierte sich wieder auf Byron. „Er spielt in der Fantasie vieler junger Damen eine überaus romantische Rolle. Obgleich“, fuhr sie fort, da ihr Cyrus´ Hohn einfiel, „er auch zuweilen etwas hemmungslos sein kann.“
Rathbone grinste beifällig. „Was uns normalen Sterblichen eher schwerfällt“, gestand er. „Mein Kammerdiener möchte mich ständig dazu überreden, dass ich mir die Haare wachsen lasse und sie romantisch gewellt über den Augen trage, aber ich fürchte doch, mein Sehvermögen könnte dadurch arg beeinträchtigt werden.“
Rathbone konnte wirklich bezaubernd lächeln. Sein Gesicht war nicht so verschlossen wie Cyrus´. Lucy konnte genau erkennen, was er in diesem Augenblick fühlte. Seine Augen blitzten, und sie hätte ihr gesamtes neu ererbtes Vermögen darauf verwettet, dass Rathbone sich fragte, warum er nicht schon früher auf
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