Das Mauerblümchen erringen (German Edition)
möglicherweise erbrechen“, sagte Olivia zu dem Mädchen. „Würden Sie bitte so gut sein und jeden fortschicken, der hier Einlass begehrt?“
Lucy ahnte, dass sie grün im Gesicht war, denn das Mädchen riss erschrocken die Augen auf und machte, dass es aus dem Zimmer kam.
Olivia drückte sie sanft auf einen Stuhl und befahl ohne Umschweife: „Erzähl!“ Worauf sie sich auf einen Stuhl fallen ließ.
„Wir haben unsere Verlobung gelöst, wie Mutter es gewollt hat. Aber ...“
„Aber was?“
„Vorher habe ich ihn geküsst.“
„Und?“
„Es war ... außergewöhnlich.“ Selbst jetzt vermochte Lucy die Hitze und den Überschwang ihrer Gefühle nicht mit so etwas Alltäglichem wie einem Kuss in Einklang zu bringen. Das Wort „Kuss“ bedeutete gar nichts. Doch tief im Innern wusste sie, dass Cyrus´ Kuss eine ganze Welt bedeutete.
„Lucy Towerton, wenn du nicht deutlicher werden kannst“, rief Olivia, „dann werde ich ihn selbst fragen! Hast du ihn geküsst? Oder hat er sich verzweifelt auf dich gestürzt, um dich davon abzubringen, die Verlobung zu lösen?“
Die Erinnerung daran, wie Cyrus sich auf sie gestürzt hatte, trieb Lucy das Blut in die Wangen. Denn das war unbestritten. Die reizlose Lucy, ein Mädchen wie ein Turm, hatte es fertig gebracht, dass Mr. Cyrus Ravensthorpe die Beherrschung verloren und sie in seine Arme gerissen hatte.
Das Verlangen nach ihm erweckte in ihr den Wunsch, ihre gesamte Erbschaft für einen weiteren Augenblick wie diesen hinzugeben.
„Wunderbar!“, rief Olivia und klatschte vor Freude in die Hände. „Ausgezeichnet! Und da du nicht länger grün, sondern krebsrot im Gesicht bist, schließe ich, dass er dich nicht in einem Anfall von Prüderie fortgestoßen hat.“
„Das hat er nicht“, erklärte Lucy und nahm sich zusammen. „Eigentlich hat er eher mich geküsst als ich ihn.“
„Und warum um des Himmels willen seid ihr dann nicht mehr verlobt?“
„Weißt du, warum er mich ausgewählt hat, Olivia?“
„Weil du ein netter Mensch bist.“
„Weil ich ein Mauerblümchen bin.“
Olivia schnappte nach Luft.
„Er hat mich zu seiner Verlobten erkoren, weil mich sonst niemand wollte“, fuhr Lucy fort, legte die Wahrheit ungeschminkt dar. „Ich habe ihn gezwungen, ehrlich zu sein.“
„Das ist ja furchtbar“, hauchte Olivia. „Dann hattest du recht, ihn sitzenzulassen, Lucy. Was für ein schrecklicher Mann! Warum in aller Welt hat er denn ein Mauerblümchen gewollt?“
„Er wusste, dass meine Eltern nichts gegen die Berufstätigkeit seines Vaters einwenden würden. Sie waren ja zu eifrig darauf bedacht, mich endlich unter die Haube zu bringen! Und überdies glaube ich, dass er es zu mühsam fand, eine Frau zu umwerben.“
„Mr. Cyrus Ravensthorpe hat es endgültig mit mir verdorben.“ Olivias Augen hatten sich vor Zorn verdunkelt. „Wie konnte er es wagen, so etwas zu dir zu sagen? Das ist furchtbar arrogant. Widerlich! Soll das heißen, dass er mit Absicht eine verzweifelte Frau gesucht hat, die nicht einmal in Erwägung ziehen konnte, seinen Antrag abzuweisen?“
„Ich habe dir ja bereits erzählt, dass er mich nie gefragt hat, ob ich ihn heiraten möchte.“ Lucy hatte einen Kloß im Hals. „Er hat den Handel mit Vater abgeschlossen und das für ausreichend gehalten.“
Olivia legte die Stirn in Falten. „Das ergibt aber letztlich keinen Sinn. Der Mann ist doch vermögend! Und so schön wie Adonis. Warum hätte er glauben sollen, dass er keine Frau findet, wenn er lediglich mit den Fingern schnippt?“
„Ich habe vergessen hinzuzufügen, dass er eine Aristokratin will, und so war zufällig ich das ranghöchste Mauerblümchen ohne Pickel.“
„Das ist einfach widerlich“, empörte sich Olivia.
Lucy brachte ein trauriges Lächeln zustande.
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