Das Maya-Ritual
hinzu.
»Wie heißt du denn?«
»Rosa.« Sie zog eine Schnute.
»Das ist ein sehr hübsches Kleid, das du da anhast, Rosa. Bestimmt ist Alfredo vom Hurrikan aufgehalten worden. Er hat mir erzählt, wie sehr er sich darauf freut, auf deinem Fest zu tanzen.«
Rosa lächelte matt.
Hinter ihr erschien nun Seńora Yam, eine kleine, sehr rundliche Frau Mitte vierzig. »Alfredo?«, fragte sie hoffnungsvoll.
Ich schüttelte den Kopf.
Senora Yam runzelte die Stirn und winkte mich ins Haus.
Rosa verschwand in einem rückwärtigen Raum, während ihre Mutter mich aufforderte, auf dem einzigen Stuhl Platz zu nehmen, den ich entdeckte; er stand an einem kleinen Tisch in einer Ecke. Vor dem Fernsehgerät war eine Hängematte quer durch das Zimmer gespannt. In einer weiteren Ecke leuchtete ein Schrein für irgendeinen männlichen Heiligen, geschmückt mit Plastikblumen und umringt von Familienfotos. Ein großer Schrank nahm einen guten Teil der hinteren Wand ein, die Fächer voll gepfropft mit Geschirr, Kleidung und allerlei Nippes.
In der vierten Ecke des Raumes suchte Senora Yam nach etwas. An einer Wand sah ich die Karte von Nord und Mittelamerika und an der anderen Bilder von Fußballstars, aber ich erkannte an den Gesichtern, dass die Fotos aus Alfredos Teenagerjahren stammten. Das war offensichtlich seine Ehrenecke im Haus, ein Platz für den geachteten Sohn, der die Universität besucht hatte. Das einzige Möbelstück war eine kleine Kommode, auf der sich Papiere und Bücher stapelten. Senora Yam zog die Schubladen auf und zu, während sie etwas davon murmelte, dass Rosa ständig Sachen verräumte.
Als sie sich bückte, um die unterste Schublade aufzuziehen, bemerkte ich an der Wand hinter ihr eine aufgeklappte Doppelseite, die aus einer Zeitschrift gerissen worden war. Sie war zu weit weg, als dass ich Einzelheiten hätte erkennen können, deshalb stand ich auf und schlich auf Zehenspitzen hinüber, während Alfredos Mutter auf dem Boden kniete, um den Inhalt der Schublade zu untersuchen.
Das Foto sah genau wie die Nahaufnahme eines Stücks Erdreich aus, auf dem es vor winzigen Maden oder Termiten wimmelte. Es gab auch Linien in diesem Erdreich, eine Anzahl konzentrischer Quadrate, möglicherweise mit einem Stock gezogen. Bei näherer Betrachtung sah ich, dass das Bild aus dem National Geographie stammte, und die Bildunterschrift enthüllte, dass es sich in Wahrheit um eine Luftaufnahme der riesigen Sonnenpyramide von Teotihuacan in Zentralmexiko handelte. Die Linien waren die verschiedenen Lagen des Stufengebäudes, und die Termiten waren Touristen, weiß gekleidete New-Age-Anhänger, die sich zur Frühjahrs-Tagundnachtgleiche versammelt hatten. Ich fragte mich, ob Alfredo das Foto aufgehängt hatte, weil er die Pyramide bewunderte oder weil ihn die Touristen anwiderten, die überall darauf herumkrochen.
»Ah, bueno«, sagte Senora Yam, die endlich gefunden hatte, was sie suchte. Als sie wieder aufstand, blieb ich, wo ich war, denn meine Aufmerksamkeit war inzwischen von der Karte gefesselt, die einen großen Teil der anderen Wand in Alfredos Ecke einnahm.
Sie sah sonderbar aus. Die Grenzen der Vereinigten Staaten und Mexikos waren mit roter Tinte neu gezogen worden. Die USA waren beträchtlich geschrumpft, nach Osten bis zum 94. Längengrad zurückversetzt, während Mexiko sich in einen gewaltigen neuen Nordbereich ergoss, der Kalifornien, Nevada, Utah, Arizona, New Mexico und Texas umfasste, dazu die Brocken von Colorado und Wyoming, die 1848 im Vertrag von Guadelupe Hidalgo an die USA abgetreten worden waren, wie uns Alfredo seinerzeit in Dzulha erklärt hatte. Über diesen annektierten Teil war ein Wort gestempelt: AZTLAN.
Ich hatte nie an Alfredos Engagement für ein größeres Mexiko und die Befreiung des legendären Landes Aztlan gezweifelt, und nun hatte ich vor Augen, wie das aussehen würde.
Während ich noch auf die Vision dessen blickte, wie nach Alfredos Worten diese Welt bis zum Jahr 2050 aussehen würde, stand Senora Yam neben mir.
»Senorita?« Sie streckte mir etwas entgegen. Es war Alfredos Handy. »Piep, piep«, sagte sie, das Geräusch nachahmend, das den Erhalt einer SMS meldet. »Heute Morgen - Alfredo…« Sie machte ein Schnarchgeräusch.
»Ich hören piep, piep. Dann er machen Anruf. Dann er gehen, wumm.« Sie fuchtelte herum, um zu unterstreichen, dass er hastig aufgebrochen war. »Hier, schauen«, beharrte sie und drückte mir das Gerät in die Hand. Es war eingeschaltet.
Ich
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