Das mechanische Herz
krude Mischung aus Gerüchten und Ratespielchen. Gegen Abend kam Tayas Vater in Begleitung ihrer Schwester und des neuen Schwagers. Die drei sahen sehr besorgt aus und brachten ihr die herzlichsten Grüße und besten Wünsche ihrer Kindheitsfreunde aus Tertius. Taya war froh und dankbar über die Unterstützung ihrer Familie und umarmte sie alle mit großer Dankbarkeit.
Cristof ließ sich nicht blicken.
Gegen zehn scheuchte Gwen sämtliche Besucher aus dem Haus und verschloss den Horst für die Nacht.
Taya sank in einen unruhigen Schlaf, aus dem sie immer wieder aufschreckte, geweckt durch Cristofs Chronometer, der leise auf dem Nachttisch vor sich hin tickte.
***
Am nächsten Morgen war sie ruhiger, als sie am Frühstückstisch hockte, eine zweite Tasse Tee und einen Stapel Zeitungen vor der Nase. Alle anderen Horstbewohner waren längst bei der Arbeit, nur das Personal aus der Famulatenkaste, das in der Küche munter plaudernd Geschirr spülte, war noch im Haus zu hören. Taya saß nun schon einige Stunden im Speisesaal und las.
Sämtliche Setzer und Drucker der Stadt mussten die ganze Nacht über geschuftet haben. Auch die Schreiber waren nicht untätig gewesen: Die Geschichten am Morgen kamen der Wahrheit schon um einiges näher als die des Vortags. Taya las, was sie in die Finger bekam. Diesmal legte ihr niemand ausgedachte Zitate in den Mund. Im Gegenteil. Nur eine einzige Zeitung, der Herrscherkurier , nannte überhaupt ihren Namen. In den übrigen Zeitungen tauchte sie lediglich als „eine Ikarierin“ auf.
Im wesentlichen drehten sich die Zeitungsberichte um Cristof und Alister. Auf Alisters Ausbildung und politischen Werdegang gingen sie in aller Ausführlichkeit ein, und jegliche Hoffnung, Cristof könnte je wieder als verdeckter Ermittler tätig sein, musste man nun, da allenthalben ausführliche, schockierte Berichte über den Erhabenen kursierten, der seine Kaste verlassen hatte, um für das Militär zu arbeiten, wohl fahren lassen.
Aus den Artikeln erfuhr Taya auch Näheres über die beiden verstorbenen Liktoren. Die Zeitungen verhielten sich ihnen gegenüber recht neutral, stellten sie als harmlose Trottel dar, die von allen Seiten ungewollt während der Auseinandersetzung im Turm ums Leben gekommen waren. Einen der Artikel riss Taya nach kurzem Zögern aus und steckte ihn in die Hosentasche. Noch war ihr nicht eingefallen, wie sie für den Mord an dem Mann Buße tun konnte, aber irgend etwas würde ihr schon einfallen. Auf jeden Fall hatte sie vor, sich persönlich bei der Familie des Mannes zu entschuldigen, was ihr das Mindeste zu sein schien. Aber bestimmt war doch auch noch mehr möglich.
Sie hatte diese Entscheidung kaum getroffen, als es ihr auch schon besser ging. Endlich konnte sie sich in Ruhe ihrer Lektüre widmen, ohne ständig von schweren Schuldgefühlen geplagt zu werden.
Ein kleiner Bericht ganz hinten in einem der weniger seriösen Blätter ließ sie aufhorchen. Aufgeregt faltete sie die Zeitung so, dass sie sich zurücklehnen und den Artikel in alle Ruhe lesen konnte.
Da war es einem Journalisten doch tatsächlich gelungen, nähere Informationen über den lange zurückliegenden Mord beziehungsweise Selbstmord im Hause Forlore auszugraben, und zum ersten Mal hatte Taya einen vollständigen Bericht über die Ereignisse vor Augen. Ausführlich wurde der Verfolgungswahn beschrieben, der Alisters und Cristofs Vater dazu getrieben hatte, Frau und Kinder immer wieder brutal anzugreifen, bis seine Gewalttätigkeit in dem Streit ihren Höhepunkt fand, bei dem seine Frau ums Leben kam. Unmittelbar darauf hatte sich der Mann das Leben genommen.
Die beiden Söhne, Cristof und Alister, hatte man im Keller des Anwesens entdeckt, wohin sie sich vor dem Zorn des Vaters geflüchtet hatten. Die Kinder waren verletzt gewesen, aber nicht lebensgefährlich. Sie hatten eine Weile im Siechenhaus liegen müssen, um sich zu erholen, ehe sie von einer Tante und deren Mann aufgenommen worden waren. Die Namen dieser Verwandten wurden nicht genannt, aber Taya wusste auch so, wer sie waren: Vieras Eltern.
Erschüttert ließ Taya das Blatt sinken. Wie verschieden die beiden kleinen Jungen nun als Erwachsene waren, wie unterschiedlich sie die gewalttätigen Übergriffe ihres Vaters verarbeitet hatten.
Eine ganze Weile saß sie so da, als eine vertraute Stimme sie aus ihren Grübeleien riss.
„Taya?“
Sie sah auf – und ihr Herz tat einen kleinen Sprung. Cristof stand in der Tür, den schwarzen
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