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Das mechanische Herz

Das mechanische Herz

Titel: Das mechanische Herz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dru Pagliassotti
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Das aktuellste Blatt war gerade einmal drei Stunden alt. Es nannte die veränderten Abfahrtszeiten im Drahtfährensystem, die aufgrund der Reparaturarbeiten an der beschädigten Strecke erforderlich geworden waren. Sie sah nach, ob das Blatt auch Neues über die Unfallursache zu berichten wusste, aber das schien nicht der Fall zu sein.
    „Kaufst du das jetzt oder nicht?“, herrschte eine alte Frau sie aus dem Innern des Zeitungsstandes an.
    „Oh – nein danke. Ich reise nicht mit der Drahtfähre.“ Hastig reichte Taya ihr die Zeitung über den hölzernen Tresen zurück. Die Alte griff mit gichtverkrümmten, tintenverschmierten Fingern danach, bei deren Anblick Taya unwillkürlich wieder an Cristofs dreckige Hände denken musste. Aus welcher Richtung war der Erhabene gekommen?
    Würde ein Terrorist, der gerade eine Bombe gelegt hatte, sich aufhalten lassen, um einer Frau zu helfen, die in Bedrängnis geraten war?
    Taya ärgerte sich über sich selbst: Warum nur wurde sie den Gedanken an Cristof nicht los? Gedankenverloren suchte sie sich ihren Weg durch die engen Gassen aus Bücherständen und Verlagshäusern, bis sie am Gryngothplatz ankam, den eine Bronzestatue des Liktoren Gryngoth hoch zu Ross beherrschte. Der Platz nahm die gesamte obere Fläche eines Felsvorsprungs ein, von dem aus sich einem ein wunderbarer Blick über die darunterliegenden Berge sowie die umliegenden Gipfel bot.
    Taya lehnte sich an die niedrige Steinmauer, die den Platz umgab, und sah hinunter in den grauen Nebel, unter dem Tertius verborgen lag.
    Sich Cristof beim Bombenlegen vorzustellen fiel leicht: seine langen Finger, die ruhig und genau eine Zeitschaltuhr einrichteten, seine Hand, die schmutzig wurde, als er das explosive Material in die Öffnung einer ölverschmierten Maschine schob. Cristof war ein Verstoßener. Das hieß, dass man sich nicht auf ihn verlassen konnte, dass er möglicherweise gefährlich war. Ehrliche Bürger sagten sich nicht von ihrer Kaste los, sie liefen auch nicht mit Luftpistolen in der Gegend herum. Er hatte nicht gezögert, auf den Demikaner zu schießen, der Taya angegriffen hatte. Der Mann hatte eindeutig etwas Gewalttätiges an sich.
    Kalter Wind zerzauste Taya die rotbraunen Locken und ließ ihre Ohren ganz taub werden.
    Andererseits war Cristof von Geburt und Kaste her ein Erhabener, Bruder eines Dekaturs. Hätte die Herrin ein defektes Werkzeug aus ihrer Schmiede entlassen? Hätte sie gestattet, dass es in einem heiligen Körper wiedergeboren wurde? Idealistin war Taya nicht, was die Religion betraf. Sie wusste, dass Unfälle möglich waren, dass man auch ein gutes Werkzeug durch unachtsamen Gebrauch beschädigen konnte. Nur waren Erhabene in der Regel über jede Frage erhaben ...
    In der Regel.
    Ikarier stehen außerhalb der Kastenhierarchie.
    „Na prima!“ Taya schlug mit der Hand auf die Brüstung und richtete sich auf. „Wollen doch mal sehen, ob es dir ernst damit ist!“
    „Bitte?“, erkundigte sich eine Frau neben ihr. Taya winkte ihr entschuldigend zu, ehe sie über den Platz eilte, auf die Brücke der Feinschmiede zu.
    Die Glocken Ondiniums fingen an, die Mittagsstunde zu schlagen, als sie die breiten, im Zickzack verlaufenden Ebenen der Brücke hinaufstieg. Hier drängten sich die Menschen, Bürger sämtlicher Kasten rempelten Taya von allen Seiten her an. Auch ein paar Fremdlinge trieben sich auf der Brücke herum, auf Geschäftsbesuch in der Stadt oder auch nur, um deren zahlreiche mechanische Meisterleistungen zu bestaunen. Die Pforte zwischen den Sektoren Sekundus und Tertius stand weit offen, aber man hatte die Zahl der Liktoren an dieser Stelle verdoppelt, weswegen sich lange Warteschlangen gebildet hatten. Wie sehr sehnte Taya ihre Flügel herbei, als sie seufzend ihre Papiere zückte, um sich in einer den Einwohnern Ondiniums vorbehaltenen Schlange einzureihen! Einige Bürger musterten neugierig ihr nacktes Gesicht, wandten sich aber sofort beruhigt wieder ihren Gesprächen zu, sobald sie die Feder an ihrem Revers entdeckt hatten.
    Taya wurde nicht zum ersten Mal für eine Ausländerin gehalten. Das war eins der Probleme, mit denen Ikarier sich konfrontiert sahen, sobald sie nicht in Fliegeranzug und Geschirr auftauchten. Bei Taya kam erschwerend hinzu, dass sie nicht wie eine Einheimische aussah, fehlten ihr doch die Kupferhaut und das schwarze Haar. Sie hatte die helle Haut und die rötlichen Haare ihres Vaters geerbt; nur die dunklen Augen ihrer Mutter ließen ahnen, dass

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