Das mechanische Herz
bisher gegessen hatte.
„Wisst Ihr schon, wer alles zum Fest kommt?“, erkundigte sie sich zwischen einzelnen Bissen.
„Sämtliche Dekaturen werden da sein, samt ihren Familien. Dazu noch ein paar von Casters und Vieras Freunden und natürlich Casters politische Verbündete. Die werden zu jeder Feier der Familie Octavus geladen, egal, was Anlass des Festes ist.“ Alister nannte ein paar Namen, die sie aus ihren Vorbereitungen auf das Examen und aus den Zeitungen der Stadt kannte.
„Viera ist Eure Cousine, sagt Ihr ... kommt denn sonst noch jemand aus Eurer Familie?“
„Außer Viera und meinem Bruder habe ich keine Familie, und Cristof geht nicht auf Feste.“
„Weil er ein Geächteter ist?“
„Ist er nicht. Ein Geächteter, meine ich. Er hat sich entschieden, außerhalb seiner Kaste zu leben, aber man hat ihm seinen Status nicht aberkannt.“ Alisters Miene verfinsterte sich.
„Dann könnte er rein theoretisch an dem Abend anwesend sein?“
„Könnte er, wenn er denn wollte. Aber ihm waren Feiern schon immer zuwider, selbst ehe er Primus verließ. Cristof hat sich die geschliffenen Umgangsformen der guten Gesellschaft in all ihren Feinheiten nie recht zu eigen gemacht, und nun stellt er als bloße Person so etwas wie einen Skandal dar. Viera und ich laden ihn regelmäßig ein, immerhin gehört er zur Familie. Aber er lehnt die Einladungen genauso regelmäßig ab.“
„Vielleicht möchte er vermeiden, dass durch seine Gegenwart unangenehme Situationen entstehen und es für Euch peinlich wird.“ Taya musste an eine Bemerkung denken, die Cristof am Nachmittag ihr gegenüber gemacht hatte.
„Wie könnte er mir peinlich sein? Ich liebe ihn und wünschte, das würde er endlich mal begreifen.“
„Versteht er sich mit den Erhabenen Octavus?“
„Mit Viera schon. Unsere Eltern ... unsere Eltern starben, als wir noch sehr jung waren. Vieras Familie nahm uns damals auf. Wir sind einander eher Geschwister als Cousin und Cousine. Caster aber ist Traditionalist. Er billigt es nicht, dass Cristof sich nicht an die Sitten unserer Kaste hält. Selbst Viera hat Angst, mein Bruder könnte Ariq Flausen in den Kopf setzen. Nicht mehr lange, und der Bub wird sieben, dann muss auch er eine Maske tragen. Was, wenn er Cristofs Benehmen für normal hält und auch versucht, seine Maske in der Öffentlichkeit abzunehmen?“
„Dann haltet Ihr Euren Bruder also für nicht normal?“
„Mein Bruder ist alles andere als normal.“ Alister lachte. „Versteh mich nicht falsch, kleiner Falke: Verrückt ist er nicht. Aber es ist nicht normal, wenn ein Erhabener sich das Haar abschneidet, seine Maske ablegt und runter nach Tertius zieht, um mit der Plebs zu leben.“ Mit einem Schlag erstarb das Lachen in seinen Augen. „Cris hat ein unberechenbares Temperament. Er ist oft verdrießlich und schlechtgelaunt. Es ist für uns alle besser, dass er jetzt dort wohnt, wo er sich mit Maschinen statt mit Menschen umgeben kann.“
„Warum ... warum ist er gegangen?“
Alister schüttelte den Kopf.
„Ich wünschte, das wüsste ich. Ich glaube, jeder Erhabene träumt manchmal davon, die Maske wegzuwerfen. Die Beschränkungen, die das Kastenwesen uns auferlegt, können sehr ermüdend sein. Ich selbst würde zu gern einmal mit ein paar Metallschwingen hoch in die Lüfte steigen, ohne befürchten zu müssen, dass ein Fremder unbefugterweise mein nacktes Gesicht sieht. Nimmst du mich eines Tages mal mit? Wie dem auch sei: In meiner Bekanntschaft ist Cristof der einzige Erhabene, der diesen Traum je verwirklicht hat. Herrin – gab das einen Aufruhr! Ich mochte meinen Augen kaum trauen, als er sich das Haar abschnitt – er hat es sich selbst mit einer stumpfen Schere abgehackt. Es war grauenhaft.“
Taya versuchte, sich in Alister hineinzudenken, den Schock nachzuvollziehen, den er beschrieb. Das fiel ihr schwer, gab es im Leben eines Ikariers doch nichts, womit sie diese Situation hätte vergleichen können. Ikariern stand es frei, sich zu kleiden, wie es ihnen beliebte, ihr Haar zu tragen, wie sie wollten, und zu tun, wonach ihnen der Sinn stand – solange sie ihren Pflichten nachkamen. Der Stadt und ihren Einwohnern loyal und zuverlässig zu dienen – das war die eine, zentrale Einschränkung, die der Kaste der geflügelten Boten auferlegt war. Selbst wenn ein Ikarier aus irgendeinem Grund nicht mehr fliegen konnte, gab es für ihn am Boden, auf den Landebahnen und in den Horsten beim Sortieren der Post und bei der
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