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Das Meer Der Lügen: Ein Lord-John-Roman

Titel: Das Meer Der Lügen: Ein Lord-John-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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zumute.
    Königinnen der Nacht. Es gab vier oder fünf Straßen in London, die solchen Männern als Treffpunkt dienten und jenen mit entsprechenden Neigungen gut bekannt waren, doch es war lange her, dass er eine solche Straße nach Einbruch der Dunkelheit betreten hatte. Mindestens drei der sechs Wirtshäuser an der Barbican Street wandten sich gezielt
an ein solches Publikum. Ihre Kundschaft waren Männer auf der Suche nach Essen und Trinken und der Freude an der Gesellschaft - und an den Körpern - anderer Männer, ohne Scham und unter Gleichgesinnten.
    Gelächter umspülte ihn, während er unbemerkt weiterging. Hier und dort fing er die »Mädchennamen« auf, die die Männer unter sich benutzten und im Scherz oder als beiläufige Anspielung austauschten. Nancy, Fanny, Betty, Mrs. Anne, Miss »Ding«… Er ertappte sich dabei, dass er über die ausgelassenen Neckereien lachte, die er hörte, wenn er auch selbst niemals Neigungen in derartiger Richtung verspürt hatte.
    War Joseph Trevelyan einer von ihnen? Er hätte schwören können, dass es nicht so war; selbst jetzt war es ihm absolut unvorstellbar. Andererseits wusste er, dass auch seine Bekannten in der Gesellschaft und den Militärkreisen Londons so gut wie einstimmig auf die Bibel geschworen hätten, dass Lord John Grey im Leben nicht, unter keinen Umständen…
    »Jetzt seht Euch heute Abend unsere Miss Irons an!« Eine laute Stimme, die sich im Tonfall widerwilliger Bewunderung erhob, ließ ihn den Kopf wenden. Auf dem fackelbeschienenen Vorplatz des Wirtshauses »Three Goats« hielt unter großem Lärm »Miss Irons« Hof - ein kräftiger junger Mann mit breiten Schultern und einer Knollennase, der offenbar mit seinen Kameraden auf dem Weg zu einem Maskenball in Vauxhall eine Erfrischungspause eingelegt hatte.
    Mit fröhlichem Übermut gepudert und geschminkt, mit einem Kleid aus karmesinrotem Satin und einer gerüschten Kopfbedeckung aus Goldstoff angetan, saß Miss
Irons auf einem Fass und wies von diesem Aussichtspunkt aus die Liebeserklärungen mehrerer maskierter Herren zurück - und bediente sich dabei einer Mischung aus Flirtkunst und Verachtung, die jeder Herzogin gut zu Gesicht gestanden hätte.
    Grey blieb bei diesem Anblick abrupt stehen, fasste sich dann aber wieder und zog sich hastig auf die andere Straßenseite zurück, um in der Dunkelheit unterzutauchen.
    Trotz der Aufmachung erkannte er »Miss Irons« - die bei Tag ein gewisser Egbert Jones war, jener fröhliche junge Schmied aus Wales, der den schmiedeeisernen Zaun repariert hatte, der den Kräutergarten seiner Mutter umgab. Er war überzeugt, dass auch Miss Irons ihn trotz seiner Verkleidung erkennen würde - was angesichts ihres angetrunkenen Zustandes das Letzte war, was er sich jetzt wünschte.
    Er erreichte die Zuflucht der Brücke, die hilfreicherweise an beiden Enden von großen Steinpfeilern in Schatten getaucht wurde, und versteckte sich hinter einem davon. Sein Herz klopfte, und das Blut war ihm in die Wangen gestiegen, und zwar nicht vor Anstrengung, sondern vor Schreck. Doch es erklang kein Ruf hinter ihm, und er beugte sich vor, um die Hände auf die Mauer zu stützen und sich das erhitzte Gesicht von der Luft kühlen zu lassen, die vom Fluss aufstieg.
    Mit ihr stieg auch ein durchdringender Geruch nach Abwasser und Fäulnis auf. Drei Meter unter dem Brückenbogen kroch das dunkle, stinkende Wasser des Fleet vorbei. Es erinnerte ihn an Tim O’Connells trauriges Ende, und er richtete sich langsam auf.
    Was war der Grund für dieses Ende gewesen? Der Lohn
eines Spions, in Blut gezahlt, um die Bedrohung des Verrats auszuräumen? Oder etwas Persönlicheres?
    Zutiefst persönlich . Dieser Gedanke kam ihm mit plötzlicher Gewissheit, als er jetzt vor seinem inneren Auge erneut den Absatzabdruck auf O’Connells Stirn sah. Jeder hätte den Sergeant umbringen können, aus diversen Motiven - doch diese letzte Entwürdigung war eine gezielte Beleidigung, die als Signatur des Verbrechens hinterlassen worden war.
    Scanlons Hände waren unverletzt, Francine O’Connells Hände auch. Doch O’Connell war nicht durch die Hand eines Einzelnen gestorben, und die Iren sammelten sich wie Flöhe in der Stadt; fand man einen, waren ein Dutzend weitere in der Nähe. Scanlon hatte mit Sicherheit Freunde oder Verwandte. Er hätte furchtbar gern die Absätze von Scanlons Schuhen untersucht.
    Es standen noch mehr Männer an der Mauer; einer war von ihm abgewandt und zupfte an seiner Hose, als

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