Das Meer Der Lügen: Ein Lord-John-Roman
finden, die Verlobung diskret aufzulösen, ohne Livys Ruf zu schädigen.
Es würde nicht reichen, einfach nur selbst das Ende der Verlobung zu verkünden; wurde kein Grund angegeben, würden sich Gerüchte verbreiten wie Buschfeuer, und Gerüchte waren der Ruin jeder jungen Frau. Ohne eine Erklärung würde alle Welt davon ausgehen, dass Joseph
Trevelyan einen schmerzlichen Schwachpunkt an ihr entdeckt hatte, denn in diesen gesellschaftlichen Sphären wurden Verlobungen weder leichtfertig geschlossen noch gelöst. Vier Anwälte hatten zwei Monate daran gearbeitet, Olivias Ehevertrag zu formulieren.
Genauso wenig konnte er den wahren Grund für die Trennung in der Öffentlichkeit verbreiten - und was die Gesellschaft anging, so gab es keine Privatsphäre; wenn irgendjemand im Umfeld der Familien die Wahrheit erfuhr, würde jeder sie erfahren.
Zwar waren die Greys nicht ohne Einfluss, doch an den Reichtum und die Macht der Trevelyans aus Cornwall reichten sie nicht heran. Die Wahrheit zu verbreiten bedeutete, die Feindschaft der Trevelyans in einem Maße heraufzubeschwören, das die Angelegenheiten seiner eigenen Familie jahrzehntelang kompromittieren würde - und es würde Livy dennoch schaden, denn die Trevelyans würden sie für Josephs Bloßstellung und Entehrung verantwortlich machen, auch wenn sie nichts davon gewusst hatte.
Er konnte Joseph Trevelyan zwingen, die Verlobung zu lösen, indem er ihm unter vier Augen drohte, ihn bloßzustellen; doch auch dies würde Livys Ruf einen zweifelhaften Anstrich geben, wenn keine plausible Erklärung folgte. Nein, Trevelyan musste die Verlobung aus freien Stücken lösen, und zwar auf eine Weise, die Livy von jedem Vorwurf freisprach. Es würde immer noch Gerede und Spekulationen geben, doch mit etwas Glück würde der Schaden nicht so groß sein, dass er Livy daran hinderte, schließlich eine andere, ordentliche Partie zu machen.
Was ein solcher Grund sein könnte und wie er Trevelyan mit der Nase darauf stoßen könnte… diesbezüglich hatte er noch keine guten Ideen, doch er hegte die Hoffnung, dass die Entdeckung von Trevelyans Inamorata einen solchen Grund darstellen würde. Sie war eindeutig eine verheiratete Frau und befand sich ebenso eindeutig in einer gesellschaftlich höchst delikaten Position; wenn er ihre Identität herausfinden konnte, war es möglich, einen Besuch bei ihrem Ehemann als Druckmittel gegenüber den Trevelyans einzusetzen, ohne dass es den Anschein haben musste, als hätte Grey direkt damit zu tun gehabt.
Zunehmender Lärm riss ihn aus seinen Gedanken, und als er aufblickte, sah er drei Heranwachsende auf sich zukommen, die miteinander herumalberten und sich im Scherz herumschubsten. Sie machten einen derart unschuldigen Eindruck, dass sie sofort verdächtig wirkten. Als er sich rasch umsah, erspähte er prompt ihre Komplizin: ein schmutziges Mädchen von etwa zwölf, das dicht neben ihm darauf lauerte, ihm die Knöpfe abzuschneiden oder den Wein zu entreißen, sobald er sich von ihren Spielkameraden ablenken ließ.
Er ergriff mit einer Hand sein Schwert und umklammerte mit der anderen den Flaschenhals, während er dem Mädchen einen stechenden Blick zuwarf. Sie zog einen trotzigen Schmollmund, wich jedoch zurück, und die Bande der jungen Taschendiebe polterte lauthals an ihm vorbei und ignorierte ihn offenkundig.
Plötzliche Stille bewog ihn aber, ihnen nachzublicken, und er sah gerade noch, wie die Röcke des Mädchens in einer Seitengasse verschwanden. Die Jungen waren nirgendwo
mehr in Sicht, doch hastige Schritte hallten leise durch die Gasse und entfernten sich.
Er fluchte wortlos vor sich hin und sah sich um. Wo mochte diese Gasse auskommen? Die Straße, auf der er sich befand, wies zwischen seinem Standort und der nächsten Kreuzung mehrere dunkle Öffnungen auf. Offensichtlich planten sie, vorzulaufen und sich dann auf die Lauer zu legen, bis er an ihrem Versteck vorbeikam, um dann herauszuspringen und ihn hinterrücks zu überfallen.
Vorgewarnt war gut gewappnet, doch sie waren immerhin zu dritt - zu viert, wenn er das Mädchen mitrechnete -, und er bezweifelte, dass sich die Pastetenverkäufer und das Lumpengesindel auf der Straße gedrängt fühlen würden, ihm zur Hilfe zu eilen. Kurz entschlossen machte er kehrt und bog geduckt in die Gasse ein, in der die Taschendiebe verschwunden waren. Er schob eine Hemdfalte beiseite, um den Dolch griffbereit zu haben.
Die Straße war schäbig gewesen; die Gasse war widerlich, eng,
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