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Das Meer Der Lügen: Ein Lord-John-Roman

Titel: Das Meer Der Lügen: Ein Lord-John-Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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Pulverkörnchen in den Stoff gebohrt; außerdem waren Stoffpartikel mit der Wunde in der Brust verschmolzen.
    Jetzt begann ihm die Sache schon eher einzuleuchten. Wenn das Opfer das Kleid getragen hatte, als der Schuss fiel, und es einen Grund gab, es ihm nicht auszuziehen - dann war es sinnvoll, ihm das Gesicht zu zerschmettern, um seine Identität zu verschleiern.

    Betrachten wir es einmal von der anderen Seite, dachte er. Wenn Magruder nicht auf den Fall, dass ein grünes Samtkleid auftauchte, vorbereitet gewesen wäre - denn es konnte ja niemand wissen, dass offiziell nach einem solchen gesucht wurde -, was wäre dann wohl geschehen?
    Man hätte die Leiche entdeckt und ins nächste Leichenschauhaus gebracht -, welches sich im Fall des St. James Parks wo befand? In der Nähe von Vauxhall vielleicht.
    Das war viel versprechend; Vauxhall war ein Viertel, in dem es rau zuging, voller Theater und Vergnügungsparks, die von Prostituierten und von den Königinnen der Nacht frequentiert wurden, die sich auf einem der zahlreichen Maskenbälle einen fröhlichen Abend machen wollten. Er musste Magruder bitten herauszufinden, ob Dienstagabend ein Ball stattgefunden hatte.
    Nun denn. Hätte Magruder nicht eingegriffen, wäre die Leiche im Leichenschauhaus gelandet, wo man mit großer Sicherheit davon ausgegangen wäre, dass es eine Prostituierte war, da solche Frauen nicht selten ein gewaltsames Ende nahmen. Schließlich hatte jeder, der die Leiche gesehen hatte, tatsächlich gedacht, dass es eine Frau war, bis Tom, der Barbierssohn, den winzigen Fleck mit den verräterischen Stoppeln erspäht hatte.
    Das war es, dachte er, und ein Stoß der Erregung durchfuhr ihn. Das war der Grund, warum man dem Toten das Kleid nicht ausgezogen hatte und warum sein Gesicht zerschmettert war; nicht direkt, um seine Identität zu verschleiern, sondern sein Geschlecht!
    Er spürte, wie Tom ihn neugierig ansah, und begriff, dass er ein Geräusch gemacht haben musste. Er sah den
Jungen kopfschüttelnd an und ging weiter, zu sehr von seinen Spekulationen gefangen, um sich von einem Gespräch ablenken zu lassen.
    Selbst wenn die Wahrheit über das Geschlecht der Leiche ans Licht gekommen wäre, dachte er, hätte man wahrscheinlich angenommen, dass die Leiche der dunklen Halbwelt der Transvestiten angehörte, die für Geld zu haben waren - niemand, der von Bedeutung war oder vermisst werden würde.
    Die Leiche wäre prompt beseitigt worden und je nach Zustand entweder zu einem Sezierer oder in ein Armengrab gebracht worden - in jedem Fall jedoch unwiderrufbar fort, ohne dass die Möglichkeit bestand, dass sie je identifiziert wurde.
    Das Ganze löste ein unangenehmes Gefühl in seiner Magengrube aus. Jedes Jahr verschwanden eine ganze Reihe Jungen und junger Männer aus dieser Schattenwelt, und ihr Schicksal - wenn es denn überhaupt bemerkt wurde - wurde normalerweise hinter offiziellen Formulierungen versteckt, in denen es einzig darum ging, die Empfindlichkeiten der Gesellschaft zu beruhigen und daher jeden Hinweis zu vermeiden, dass sie etwas mit unsäglicher Perversion zu tun gehabt haben könnten.
    Was bedeutete, dass es einen Grund dafür gegeben hatte, dass man sich bei diesem Mord solche Mühe gegeben hatte - der Tote war jemand von Bedeutung. Jemand, der vermisst werden würde. Das Bündel unter seinem Arm kam ihm plötzlich schwerer vor und zerrte an ihm wie das Gewicht eines abgetrennten Kopfes.
    »Mylord?« Tom Byrd legte zögernd die Hand auf das Bündel und bot ihm an, es ihm abzunehmen.

    »Nein, Tom, es geht schon.« Er verlagerte das Bündel und steckte es sich fester unter den Arm. »Ich rieche sowieso schon wie ein Schlachthaus; da braucht Ihr Eure Kleider nicht auch noch zu ruinieren.«
    Der Junge zog seine Hand mit einem Eifer fort, der Grey verriet, wie tapfer sein Angebot gewesen war. Das Bündel stank abscheulich. Er lächelte vor sich hin, das Gesicht im Dunklen verborgen.
    »Ich fürchte, wir haben das Abendessen verpasst - aber ich nehme an, dass die Köchin uns noch etwas gibt.«
    »Ja, Mylord.«
    Piccadilly lag direkt vor ihnen; die Straßen verbreiterten sich und waren mit Bekleidungshäusern und den Geschäften der Kaufleute gesäumt, nicht mit den Absteigen und Schankhäusern der schmalen Gassen in der Nähe der Queen Street. Um die Abendzeit herrschte reger Verkehr und ein fröhliches Gewimmel von zusammenhanglosen Gesprächsfetzen und Rufen driftete an ihnen vorbei.
    Es regnete leicht, und Nebel stieg von den

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