Das Meer der Seelen Bd. 1 - Nur ein Leben
prüfte den Boden, bevor ich darauf vertraute, dass er mein Gewicht tragen würde. Oder dass er da bleiben würde. Die Treppe hatte mich nicht fallen lassen, aber sie hatte wahrscheinlich daran gedacht.
Der Herzschlag des Tempels dauerte an. Gleichmäßig. Dröhnend. Ich umklammerte mein Messer. Es war hier nutzlos, dennoch löste der glatte Rosenholzgriff einen tröstenden Schauer in mir aus.
Es waren nur etwa ein Dutzend Bücher am anderen Ende des Raumes, aber sie warfen augenfreundliche Schatten. Meine Kopfschmerzen wurden schwächer, als meine Hand über dem blutroten Einband zögerte. Kein Titel. Kein Hinweis darauf, was sich im Innern befand.
Auch kein Staub.
Mit angehaltenem Atem legte ich die Hand auf den Buchdeckel und wartete.
»Janan?«, flüsterte ich. »Bist du da?«
Keine andere Antwort als der rhythmische Herzschlag in der Luft.
Meine Hände zitterten, als ich das Buch von dem Stapel nahm. Es war dünn, aber schwer. Hadernpapier, Ledereinband.
Die Bindung knarrte, als ich es öffnete. Der schwache Geruch von Tinte kitzelte mich in der Nase.
Das war auch etwas, das im Tempel fehlte: Geruch.
Ich hielt mir das Papier ans Gesicht und atmete ein, auf dümmliche Weise dankbar für etwas so Einfaches, dessen Fehlen ich gar nicht bemerkt hatte. Dann, peinlich berührt, obwohl niemand da war, hielt ich das Buch mit einer Hand und blätterte in den Seiten, um zu sehen, was darin stand. Um Antworten zu finden.
Die Seiten waren mit schwarzen Klecksen übersät, als hätte der Schreiber mit seinem Stift aufgeklopft, damit die Tinte überall hinspritzte, oder als hätte ein Eichhörnchen Tinte an die Pfoten bekommen und das Papier benutzt, um sie zu säubern. Die Zeichen liefen nicht von links nach rechts wie die Worte, die ich kannte, oder wie Musik.
Ich versuchte es mit einem anderen Buch. Das gleiche unsinnige Gekritzel. Wie viele Seiten ich auch umblätterte, die Zeichen ergaben keinen Sinn.
Ich hatte so etwas schon einmal erlebt: zu wissen, dass etwas funktionieren müsste, aber nicht zu wissen, wie. Ich war zehn Jahre alt gewesen. Li hatte eins der Bücher von Cris genommen und durchgeblättert und vor sich hin gesummt, als würde sie die Tintenspritzer verstehen, und sie hatte die Kleinkläranlage mühelos repariert, nachdem sie die Betriebsanleitung gelesen hatte.
Nachdem sie ins Bett gegangen war, hatte ich mich in die Bibliothek geschlichen und das Buch geöffnet, das sie gelesen hatte, aber es hatte keinen Sinn ergeben. Es war nur Tinte auf Papier.
Aber dann hatte ich das Buch auf den Tisch gelegt und das rechte Auge zugekniffen, und plötzlich hatte ich gesehen, wie alles Linien und Zwischenräume ergab.
Es hatte noch ein weiteres Jahr gedauert, bis ich alle Buchstaben und Wörter herausgefunden hatte, doch ich hatte gewusst, dass sie irgendwie funktionieren mussten . Ich hatte darauf vertraut, dass sie es taten.
Bei diesen Zeichen brauchte ich die gleiche Art von Vertrauen. Es kam nicht infrage, ein Jahr hier drin zu verbringen, um sie zu entziffern, aber vielleicht wäre es klug, nach etwas Nützlichem zu suchen – wie einer Karte –, ehe ich durch einen der Bogen ging, die aus dem Raum führten.
Bevor ich mich auf dem Boden niederlassen konnte, um die Bücher durchzusehen, setzte der Herzschlag des Tempels aus. Der Tempel stöhnte .
Ein Raunen ging durch den Tempel. Es verbesserte nicht gerade die Schwere der Luft oder das allgemeine Unbehagen, nun, da der Herzschlag wieder da war, aber es war das erste Geräusch abgesehen von meinen, und es ließ mir einen Schauer über den Rücken laufen.
Als das Flüstern lauter wurde, nahm ich meinen Rucksack ab und steckte ein paar der Bücher zu meinen Kleidern, denn es war schwer zu sagen, ob ich diesen Raum wiederfinden würde. Dann schlich ich mich davon, den Kopf schräg gelegt, als würde mir das helfen herauszufinden, woher die Geräusche kamen. Doch wie das Licht kam das Geflüster aus allen Richtungen.
Ich wollte rufen und feststellen, wer hier war. Die Worte waren aus meiner Kehle heraus, bevor ich es begriff, aber ich fing sie hinter meinen Lippen ein, bevor sie ganz entfliehen konnten. Wenn es Janan war, wenn er echt war, wollte ich zumindest eine Sekunde haben, um mich vorzubereiten. Ihn zu beobachten, bevor er mich sah, war wahrscheinlich unmöglich, doch das hier war schließlich der Ort für unmögliche Dinge.
Es war nur so, dass dieser Janan Anbetung verlangt hatte
und dann fortgegangen war. Selbst wenn er den Menschen
Weitere Kostenlose Bücher